EuGH-Entscheidung: Abschiebehäftlinge dürfen nicht in gefängnisähnlichen Einrichtungen untergebracht werden

21.03.2022 Menschen, die in Abschiebungshaft genommen werden, sind keine Straftäter. Sie dürfen nicht in gefängnisähnlichen Einrichtungen untergebracht werden. Es gibt auch für diese Menschen keinen justizfreien Raum. Dies wurde vom Europäischen Gerichtshof in einer Entscheidung zum deutschen Abschiebungshaftrecht bestätigt. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch kommentiert die am 10. März ergangene Entscheidung des EuGH und stellt fest: "Die skandalöse, rechtsstaatswidrige Inhaftierungspraxis in Deutschland geht uns alle an." Er fordert, das bis zum 30. Juni 2022 geltende Gesetz sofort aufzuheben und diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert sind, zu ermitteln und großzügig zu entschädigen und erklärt: "Nur davon abzusehen, Kinder und Jugendliche in die Abschiebungshaft zu stecken, wie es im Koalitionsvertrag auf Seite 140 festgelegt ist, ist nicht ausreichend. Nicht alles, aber vieles würde besser, wenn die Gefangenen vom Tag der Festnahme einen Anwalt (à la Pflichtverteidigung) bekämen. Die gegenwärtige Praxis, Betroffene ohne Anwält*innen in die Verfahren zu schicken, ist eines Rechtsstaats unwürdig und muss sofort geändert werden."

Hier der Beitrag vom 16.03.2022:

Abschiebehaft: Der EuGH schiebt Deutschland einen Riegel vor

Am 10. März hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine wichtige Entscheidung zum deutschen Abschiebungshaftrecht verkündet. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch hat das Verfahren mit Unterstützung von PRO ASYL vor dem EuGH geführt. Er ordnet das Urteil aus Luxemburg ein und erklärt, was nun daraus folgen muss.

Mit dem Urteil vom 10. März 2022 hat der EuGH in der Rechtssache C‑519/20 eine weitere Entscheidung zum deutschen Abschiebungshaftrecht verkündet. Verkürzt gesagt ging es in dem Verfahren darum, wie Abschiebungshaftgefangene unterzubringen sind. Maßstab ist hier die EU-Richtlinie 2008/115 (nachfolgend als »Richtlinie« zitiert). Als Rechtsanwalt habe ich das Verfahren geführt und einen Mann aus Pakistan vertreten, der mittlerweile abgeschoben worden ist.

HINTERGRUND

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EuGH-Generalanwalt: Abschiebehäftlinge und Strafgefangene nicht gemeinsam unterbringen

Zwar ist die Entscheidung der Richter nicht ganz so klar ausgefallen, wie es die Schlussanträge des Generalanwalts vermuten ließen – in einigen Punkten hat der EuGH den Ball nach Deutschland zurückgespielt. Aber: Der EuGH hat Leitplanken für die Unterbringung von Schutzsuchenden, die abgeschoben werden sollen, vorgegeben. Der wichtigste Punkt ist, dass Abschiebehäftlinge nicht in Gefängnis-ähnlichen Einrichtungen untergebracht werden dürfen. Sollten sie aufgrund mangelnder Kapazitäten in eine Haftanstalt eingesperrt werden, auf deren Gelände sich auch Strafgefangene befinden, so muss vorab vom Haftrichter überprüft werden, ob tatsächlich eine unvorhersehbare Notlage vorliegt, die das nötig macht. Die Bundesregierung wurde somit eindrücklich darauf hingewiesen, dass sie nicht einfach so eine Notlage verkünden und im Zuge dessen Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, mit Straftätern zusammen einsperren darf. Die Konsequenz muss nun sein, dass sämtliche Anstalten überprüft und zu einem großen Teil umgebaut werden müssen. Denn Haftanstalten wie die im bayerischen Hof oder in Glückstadt in Schleswig-Holstein sind von meterhohen, stacheldraht-bewehrten Mauern umgeben und haben damit eindeutig den Charakter eines Gefängnisses.

Der EuGH macht deutlich: Es gibt keinen justizfreien Raum

Menschen, die in Abschiebungshaft genommen werden, sind keine Straftäter. Eine gesetzliche Verpflichtung, Menschen in Abschiebungshaft zu nehmen, existiert nicht. In Abschiebungshaft kann eine Person genommen werden, die ausreisepflichtig ist und bei der ein Haftgrund vorliegt. Das muss durch richterliche Entscheidung aufgrund eines behördlichen Antrags geschehen. Am bedeutsamsten ist der Haftgrund der Fluchtgefahr, der den mit Haftverfahren befassten Behördenmitarbeiter*innen und Richter*innen  einen nicht unerheblichen Interpretations- und Auslegungsspielraum bietet. Ob Fluchtgefahr angenommen wird oder nicht, hängt insofern nicht nur, aber auch von den persönlichen und politischen Voreinstellungen der Entscheider*innen ab, was die uneinheitliche Handhabung eigentlich vergleichbarer Sachverhalte durch unterschiedliche Behörden und Gerichte erklärt.

Das Trennungsgebot, das durch die Richtlinie vorgegeben wird, dient dazu, Abschiebungshaftgefangene vor unnötigen und damit unverhältnismäßigen nachteiligen Auswirkungen der Inhaftierung zu schützen. Art. 18 Abs. 1 besagt, dass von diesem Grundsatz nur in »unvorhersehbaren Notlagen und nur für den Zeitraum, solange diese außergewöhnliche Situation anhält«, abgesehen werden darf. Ob diese Voraussetzungen in Deutschland vorliegen, lässt der EuGH offen. Eine solche  Prüfung obliege dem einzelnen Haftrichter, so der EuGH (vgl. Rn. 64, 68 ff und Leitsatz Nr. 2 und 3). Entgegen der Auffassung der Bundesregierung gibt es hier also keinen justizfreien Raum!

Drei Aspekte, auf die der EuGH hinweist, sind besonders wichtig:

Die Gesamtzahl aller ausreisepflichtigen Menschen spielt keine Rolle

1. Die Gesamtzahl aller ausreisepflichtigen Drittstaatsangehörigen oder gar neu ankommenden Migranten und ihr Verhältnis zu den in speziellen Hafteinrichtungen vorhandenen Haftplätzen spielt keine unmittelbare Rolle dafür, ob eine Notlage im Sinne des Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie vorliegt (Rn. 72).

1500 Menschen wurden 2019 in Bayern in Abschiebungshaft genommen

3500 Menschen wurden 2019 in Bayern abgeschoben

Bewertung: Es kommt also – wenn überhaupt – entscheidend auf die Zahl der Ausreisepflichtigen an, die inhaftiert werden können. Hierzu fehlen bislang aber hinreichende und belastbare Angaben. Die Bundesländer machen ganz unterschiedlich vom Instrumentarium der Abschiebungshaft Gebrauch. So wurden zum Beispiel im Bundesland Bayern im Jahr 2019 knapp 1.500 Menschen in Abschiebungshaft genommen und insgesamt 3.500 Menschen abgeschoben. Im Bundesland Berlin hingegen wurden im gleichen Zeitraum lediglich 18 Menschen inhaftiert und dennoch fast 1.000 Menschen abgeschoben. Das Verhältnis zwischen Haft und Abschiebungen liegt insofern im Land Berlin bei knapp zwei Prozent, im Land Bayern bei über vierzig Prozent.

Auch für das gesamte Bundesgebiet hat sich das Verhältnis zwischen Inhaftierungen und Abschiebungen erheblich verändert: 2015 kam eine Haftanordnung auf jede zehnte Abschiebung. Im Jahre 2020 lag dann das Verhältnis bei eins zu vier, das heißt eine Haftanordnung kam auf jede vierte Abschiebung. Die Zahlen zeigen: Mehr Abschiebungshaftanordnungen führen nicht automatisch zu mehr Abschiebungen!

Mehr Abschiebungshaftanordnungen führen nicht automatisch zu mehr Abschiebungen!

Die Bundesregierung darf nicht pauschal von einer »Notlage« sprechen

2. Nach Ansicht des EuGH kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 18 der Richtlinie berufen, wenn die »schwere Belastung seiner speziellen Hafteinrichtungen nicht die Folge eines unerwarteten Anstiegs der in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen ist, sondern lediglich durch die Reduzierung der in speziellen Haftanstalten verfügbaren Plätze oder durch mangelnde Voraussicht der nationalen Behörden verursacht ist« (Rn. 81). Zudem muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass die Belastung während des gesamten Zeitraums fortbesteht, in dem er sich auf Art. 18 der Richtlinie stützt (Rn. 82)

Bewertung: Deutschland hat es über Jahre hinweg versäumt, hinreichend Abschiebungshaftplätze in eigenen Einrichtungen zu schaffen, wie es die Richtlinie vorsieht. Diese ist immerhin seit Heiligabend 2010 unmittelbar anwendbar. Nichtsdestotrotz wurden Abschiebungsgefangene in Deutschland lange  regelmäßig mit Strafgefangenen in einer Anstalt untergebracht. Erst aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs im Sommer 2014 in den Rechtssachen Bero u. a. (C‑473/13) – und damit viel zu spät! –  begannen die meisten Bundesländer, eigene Hafteinrichtungen zu errichten.

Missachtet ein Mitgliedstaat wie die Bundesrepublik Deutschland die Vorgaben der Richtlinie und kümmert sich nicht darum, rechtzeitig eigene Haftplätze für Abschiebungsgefangene zu errichten, darf dieses Versäumnis bei der Bewertung der Frage, ob eine unverschuldete Notlage vorliegt, nicht unbeachtet bleiben, stellten die Luxemburger Richter klar. Zudem dürfte die Entscheidung so zu verstehen sein, dass sich ein Mitgliedstaat eine Notlage nicht schaffen kann, indem er durch entsprechende gesetzliche Neuregelungen die Zahl von Ausreisepflichtigen massiv erhöht. Gleiches gilt erst recht für die Verschärfung gesetzlicher Regelungen, mit denen Ausreisepflichtige leichter und länger inhaftiert werden können. Es ist allgemein bekannt, dass der deutsche Gesetzgeber seit Beginn der vermeintlichen  »Migrationskrise« im Herbst 2015 in einem geradezu atemberaubenden Tempo verschiedenste Regelungen geschaffen hat, die Abschiebungen und Inhaftierungen von Abzuschiebenden stark erleichtern.

 

Abschiebehäftlinge dürfen nicht in einer gefängnisähnlichen Umgebung untergebracht werden

3. Unabhängig von den »Notlagefragen« macht der EuGH schließlich deutliche Ausführungen dazu, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um überhaupt von einer »speziellen Abschiebungshaftanstalt« sprechen zu können (vgl. hierzu auch Leitsatz 1). Unter Rn. 54 heißt es, dass soweit wie möglich vermieden werden müsse, dass die Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkomme, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend sei. Unter Rn. 55 weist der EuGH darauf hin, dass der »Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung (…) auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anzuwenden sind, ein gewichtiges Indiz dafür darstellen, dass eine solche Unterbringung nicht in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie« stattfinde.

Bewertung: Dies ist für mich die wichtigste Aussage des EuGH. Nahezu alle Abschiebungshafteinrichtungen, die in Deutschland existieren, sind baulich von einer Strafhaftanstalt kaum zu unterscheiden. Dies gilt insbesondere für die Neubauten in Glückstadt und Hof. Nimmt man die Ausführungen des EuGH ernst, dürfte in diesen Anstalten Abschiebungshaft nicht vollstreckt werden. Das gilt umso mehr, als in verschiedenen Bundesländern (etwa in Niedersachsen und Bayern) Abschiebungshaft weiterhin nach dem Strafvollzugsrecht vollstreckt wird.

Wie geht es weiter nach dem Urteil des EuGH?

Meiner Ansicht nach ist § 62a I AufenthG in der bis 30. Juni 2022 geltenden Fassung sofort aufzuheben, da die Voraussetzungen einer »Notlage« nicht vorlagen. Diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert sind, müssen ermittelt und großzügig entschädigt werden. Zudem ist die Unterbringung von Abschiebungsgefangenen in Bundesländern ohne eigenes Abschiebungshaftvollzugsgesetz zu beenden. Überdies wird jede Anstalt dahingehend zu überprüfen sein, ob hier die Inhaftierung nicht strafhaftähnlich ist, was verboten ist.

Diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert sind, müssen ermittelt und großzügig entschädigt werden.

Doch dabei allein darf es nicht bleiben. Nur davon abzusehen, Kinder und Jugendliche in die Abschiebungshaft zu stecken, wie es im Koalitionsvertrag auf Seite 140 festgelegt ist, ist nicht ausreichend. Nicht alles, aber vieles würde besser, wenn die Gefangenen vom Tag der Festnahme einen Anwalt (à la Pflichtverteidigung) bekämen. Die gegenwärtige Praxis, Betroffene ohne Anwält*innen in die Verfahren zu schicken, ist eines Rechtsstaats unwürdig und muss sofort geändert werden. Das hat auch Johanna Schmidt-Räntsch, Richterin am BGH, deutlich gemacht.

2215 Mandant*innen in Abschiebehaft seit 2001 vertreten

Und es braucht endlich eine hinreichende Evaluierung. Zahlen müssen auf den Tisch! Seit 2001 habe ich bundesweit 2.215 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten (Stand 8.3.2022). Alle Verfahren habe ich ausgewertet. 1.164 meiner Mandant*innen (also 52,6 Prozent) wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche »nur« einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 1.164 Gefangenen 30.507 rechtswidrige Hafttage – das sind gut 83 Jahre rechtswidrige Haft! Im Durchschnitt befand sich jede*r Mandant*in knapp vier Wochen (genau: 26,2 Tage) zu Unrecht in Haft. Rund 100 Verfahren laufen zur Zeit noch. Darüber muss gesprochen werden, das Thema gehört endlich in die Öffentlichkeit. Die skandalöse, rechtsstaatswidrige Inhaftierungspraxis in Deutschland geht uns alle an.

Peter Fahlbusch

PRO ASYL hat das Gerichtsverfahren über seinen Rechtshilfefonds unterstützt.