Europäische Menschenrechtskonvention zur Disposition stellen? Europarat kritisiert diesen Vorstoß von 9 EU-Staaten

25.05.2025  Angeführt von den Regierungschefinnen Frederiksen (Dänemark) und Meloni (Italien) forderten 9 EU-Länder, die Menschenrechtskonvention zu überprüfen. Ihr gemeinsames Ziel: durch eine „Neuinterpretation“ den Europäischen Gerichtshof entsprechend ihrer Politik in seiner Rechtsprechung einzuschränken und für Abschiebungen "mehr Spielraum auf nationaler Ebene" zu ermöglichen.

Die Unterzeichner forderten..., "einen Blick darauf zu werfen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt hat".

Der Gerichtshof in Straßburg hatte zuletzt Fälle gegen Lettland, Litauen und Polen verhandelt, bei denen es um die angeblich rechtswidrige Behandlung von Migranten ging. Dänemark wurde zudem aufgefordert, seine Regelungen zur Familienzusammenführung zu ändern. Der Gerichtshof hatte außerdem Italien mehrfach wegen seiner Behandlung von Migranten verurteilt.

Wörtlich heißt es in dem offenen Brief der neun Länder, man frage sich, "ob der Gerichtshof in einigen Fällen den Geltungsbereich der Konvention zu weit ausgedehnt und damit das Gleichgewicht zwischen den zu schützenden Interessen verschoben" habe. In bestimmten Fällen sei so die Fähigkeit der Länder eingeschränkt worden, "politische Entscheidungen in unseren eigenen Demokratien zu treffen". (zitiert aus DW)

Der Europarat wies jetzt diesen Vorstoß entschieden zurück:

Der Generalsekretär des Europarats erklärte dazu am Samstag, in einem Rechtsstaat "darf die Justiz nicht politischem Druck unterworfen werden". "Die Institutionen, welche die Grundrechte verteidigen, können nicht von politischen Zyklen abhängig sein. Wenn dies der Fall wäre, würden wir eine Erosion der Stabilität riskieren, welche sie sicherstellen sollen." (Stern)

"Das Gericht darf nicht als Waffe dienen, weder gegen Regierungen, noch ihnen selbst"...

Der Europarat – eine von der EU unabhängige Organisation zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Demokratie in 46 Ländern Europas – stellt sich damit klar gegen einen offenen Brief von Italien und acht weiteren EU-Staaten. (Zeit)

Reaktionen aus Deutschland:

Der Vorstoß „untergräbt das Vertrauen in den Europäischen Gerichtshof und erweckt den Eindruck, Menschenrechte seien verhandelbar oder gar störend“, sagte Grünen-Parteichef Felix Banaszak. ... Die beteiligten Regierungen „wollen nicht nur unabhängige Gerichte angreifen, sondern auch den Menschenrechtsschutz zugunsten nationaler Sicherheitsinteressen schwächen“, sagte dazu Banaszak. „Das ist gerade in Zeiten erstarkender rechtsextremer Kräfte brandgefährlich und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon lange auf die Aushöhlung des europäischen Rechtsrahmens setzen“, warnte der Grünen-Vorsitzende....

Die Linken-Politikerinnen Katrin Fey und Clara Bünger werteten den Vorstoß der neun EU-Staaten als „erschütternd“. „Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt die Würde und Rechte jedes Menschen – unabhängig von Herkunft oder Status. Menschenrechte sind deswegen schlicht nicht verhandelbar“, betonte Fey in Berlin....

Der deutsche Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille verwies auf Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am Rande seines Besuchs in Rom, er habe „keine Veranlassung, Gerichtshöfen Briefe zu schreiben“. Richtig sei allerdings, dass auch die Bundesregierung eine „strengere Migrationspolitik verfolgen“ wolle. Daher beteiligte sich Deutschland „aktiv an den europäischen Diskussionen, wie wir legale Migration begrenzen können“. Dazu gehöre auch die aktuelle Initiative der neun Staaten.

Auf die Unabhängigkeit des Gerichtshofs verwies eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums. „Wir räumen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte in Europa einen hohen Stellenwert ein“, sagte sie in Berlin. „Und ich kann natürlich auch betonen, wir fühlen uns vollumfänglich an die Rechtsprechung des EGMR gebunden“, fügte sie hinzu.  (taz)

Wir zitieren Pressestimmen dazu:

Italien und acht weitere EU-Länder fordern mehr Freiraum, um kriminelle Ausländer auszuweisen. Der Europarat warnt vor einer Schwächung der Menschenrechtskonvention. ...

Italien, Dänemark und sieben weitere EU-Staaten wollen die Europäische Menschenrechtskonvention neu interpretieren - besonders mit Blick auf die Migrationspolitik und Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte...

 

Hier im Wortlaut:
 

Italien und acht weitere EU-Länder fordern mehr Freiraum, um kriminelle Ausländer auszuweisen. Der Europarat warnt vor einer Schwächung der Menschenrechtskonvention.

Der Europarat hat die Initiative von neun europäischen Ländern kritisiert, die Ausweisung krimineller Ausländer zu erleichtern. Die Regierungen der Länder wollen erreichen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine bisherige Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention aufweicht.

"In einer Gesellschaft, in der Rechtsstaatlichkeit herrscht, sollte keine Justiz unter politischen Druck geraten", sagte Europarat-Generalsekretär Alain Berset am Samstag. Institutionen, die die Grundrechte schützten, dürften sich nicht politischen Zyklen beugen. "Wenn sie es doch tun, riskieren wir, genau die Stabilität zu untergraben, für die sie geschaffen wurden. Der Gerichtshof darf nicht als Waffe eingesetzt werden – weder gegen die Regierungen noch von ihnen selbst."

Der Europarat – eine von der EU unabhängige Organisation zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Demokratie in 46 Ländern Europas – stellt sich damit klar gegen einen offenen Brief von Italien und acht weiteren EU-Staaten. Diese hatten am Donnerstag die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinterfragt und von der EU "mehr Spielraum auf nationaler Ebene" gefordert, um ausländische Straftäter abzuschieben. Neben Italien unterzeichneten Dänemark, Polen, Österreich, Belgien, Estland, Lettland, Litauen und Tschechien den Brief.

EU-Staaten fordern Debatte über Menschenrechtskonvention

Die Länder argumentieren, dass sich die internationale Lage fundamental geändert habe und Menschen die Ländergrenzen in einer "komplett anderen Größenordnung" überschreiten würden. Es sei an der Zeit, eine Diskussion zu führen, wie die internationalen Konventionen den Herausforderungen der Zeit gerecht würden. Die bisherige Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention habe in manchen Abschiebefällen zum Schutz der falschen Personen geführt.

 

Nach der Forderung von neun EU-Ländern nach einer Überprüfung der Europäischen Menschenrechtskonvention hat sich der Europarat am Samstag mit deutlichen Worten hinter den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestellt, der die Einhaltung der Konvention überwacht. "Der Erhalt der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit des Gerichts ist fundamental", erklärte der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset. "Angesichts der komplexen Herausforderungen unserer Zeit ist es nicht unsere Aufgabe, die Konvention zu schwächen, sondern sie stark und aussagekräftig zu lassen", betonte er.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg ist für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die 46 Unterzeichnerstaaten zuständig. Unter anderem mit Blick auf das Thema Migration hatten Italien und acht weitere EU-Länder am Donnerstag in einem Brief "eine neue und offene Diskussion über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention" gefordert. 

Neben Italien und Dänemark gehören zu den Unterzeichnern Polen, Österreich, Belgien, Estland, Lettland, Litauen und Tschechien. Das Schreiben wurde nach einem Treffen zwischen Meloni und der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in Rom veröffentlicht. Beide Regierungschefinnen verfolgen in ihren Ländern eine strikte Einwanderungspolitik. 

"Wir müssen das richtige Gleichgewicht wiederherstellen", erklärten die neun Länder. Es sei an der Zeit, "eine Diskussion darüber zu führen, wie die internationalen Konventionen den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden." Die Unterzeichner forderten zudem, "einen Blick darauf zu werfen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt hat."

Der Generalsekretär des Europarats erklärte dazu am Samstag, in einem Rechtsstaat "darf die Justiz nicht politischem Druck unterworfen werden". "Die Institutionen, welche die Grundrechte verteidigen, können nicht von politischen Zyklen abhängig sein. Wenn dies der Fall wäre, würden wir eine Erosion der Stabilität riskieren, welche sie sicherstellen sollen."

"Das Gericht darf nicht als Waffe dienen, weder gegen Regierungen, noch ihnen selbst", erklärte Berset, ehemals Schweizer Präsident. 

Der EGMR hatte in den vergangenen Jahren mehrere Staaten wegen ihres Vorgehens gegen illegale Migration verurteilt, unter anderem hatte er 2022 von Großbritannien geplante Abschiebeflüge nach Ruanda gestoppt.

 

Neun EU-Länder fordern nach Klagen, Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Migration zu überprüfen. Grüne und Linke üben Kritik.

Berlin afp | Die Forderung von neun EU-Ländern, Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Migration zu überprüfen, stößt in Deutschland auf teils deutliche Kritik. Der Vorstoß „untergräbt das Vertrauen in den Europäischen Gerichtshof und erweckt den Eindruck, Menschenrechte seien verhandelbar oder gar störend“, sagte Grünen-Parteichef Felix Banaszak am Freitag der Nachrichtenagentur AFP. Auch die Bundesregierung ging auf Distanz zu dem am Donnerstag in Rom veröffentlichten Schreiben.

Der an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerichtete Brief wurde vom Büro der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni verbreitet. Neben Italien wird dieser auch von Dänemark, Polen, Österreich, Belgien, Estland, Lettland, Litauen und Tschechien unterstützt.

Darin wird eine „neue und offene Diskussion“ über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt. Italien und weitere beteiligte Länder waren zuvor vor dem Gerichtshof wegen ihres Umgangs mit Migrantinnen und Migranten verklagt worden. Gegen Italien und Dänemark ergingen diesbezügliche Urteile oder Aufforderungen, Handlungsweisen zu ändern.

Die beteiligten Regierungen „wollen nicht nur unabhängige Gerichte angreifen, sondern auch den Menschenrechtsschutz zugunsten nationaler Sicherheitsinteressen schwächen“, sagte dazu Banaszak. „Das ist gerade in Zeiten erstarkender rechtsextremer Kräfte brandgefährlich und Wasser auf die Mühlen derjenigen, die schon lange auf die Aushöhlung des europäischen Rechtsrahmens setzen“, warnte der Grünen-Vorsitzende.

Banaszak wertete den Vorstoß von vor allem rechtsgerichteten, aber auch einigen sozialdemokratisch geführten Regierungen als „ein Geschenk an den rechten Rand“ und eine Schwächung der rechtsstaatlichen Demokratie. „Wir erwarten insbesondere von unseren sozialdemokratischen Partnern in Europa, dass sie sich ihrer Verantwortung für den Rechtsstaat bewusst sind“, betonte er weiter.

Kritik auch von der Linken

Die Linken-Politikerinnen Katrin Fey und Clara Bünger werteten den Vorstoß der neun EU-Staaten als „erschütternd“. „Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt die Würde und Rechte jedes Menschen – unabhängig von Herkunft oder Status. Menschenrechte sind deswegen schlicht nicht verhandelbar“, betonte Fey in Berlin.

Bünger nannte es „beunruhigend, wie gerade im Bereich der Migrationspolitik Grundrechte infrage gestellt werden“. Zudem handele es sich bei dem Brief an den Gerichtshof um einen Angriff auf die Gewaltenteilung.

Bundesregierung will „strengere Migrationspolitik“

Der deutsche Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille verwies auf Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am Rande seines Besuchs in Rom, er habe „keine Veranlassung, Gerichtshöfen Briefe zu schreiben“. Richtig sei allerdings, dass auch die Bundesregierung eine „strengere Migrationspolitik verfolgen“ wolle. Daher beteiligte sich Deutschland „aktiv an den europäischen Diskussionen, wie wir legale Migration begrenzen können“. Dazu gehöre auch die aktuelle Initiative der neun Staaten.

Auf die Unabhängigkeit des Gerichtshofs verwies eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums. „Wir räumen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte in Europa einen hohen Stellenwert ein“, sagte sie in Berlin. „Und ich kann natürlich auch betonen, wir fühlen uns vollumfänglich an die Rechtsprechung des EGMR gebunden“, fügte sie hinzu.

 

Italien, Dänemark und sieben weitere EU-Staaten wollen die Europäische Menschenrechtskonvention neu interpretieren - besonders mit Blick auf die Migrationspolitik und Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte.

In einem offenen Brief, der am Donnerstag vom Büro der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni veröffentlicht wurde, fordern mehrere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine grundsätzliche Debatte über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Anlass sei die Sorge, dass diese nicht mehr ausreichend auf die aktuellen Herausforderungen - insbesondere im Bereich Migration - reagiere.

Unterzeichnet wurde das Schreiben von den Regierungen Italiens, Dänemarks, Polens, Österreichs, Belgiens, Estlands, Lettlands, Litauens und Tschechiens.

Kritik an Urteilen zu Migration

Veröffentlicht wurde die Erklärung im Anschluss an ein Treffen zwischen Meloni und der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in Rom. Beide Regierungschefinnen vertreten eine restriktive Einwanderungspolitik. In der gemeinsamen Erklärung heißt es: "Wir müssen das richtige Gleichgewicht wiederherstellen." Die Zeit sei reif für eine Diskussion darüber, "wie die internationalen Konventionen den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden".

Die Unterzeichner forderten zudem, "einen Blick darauf zu werfen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt hat".

Der Gerichtshof in Straßburg hatte zuletzt Fälle gegen Lettland, Litauen und Polen verhandelt, bei denen es um die angeblich rechtswidrige Behandlung von Migranten ging. Dänemark wurde zudem aufgefordert, seine Regelungen zur Familienzusammenführung zu ändern. Der Gerichtshof hatte außerdem Italien mehrfach wegen seiner Behandlung von Migranten verurteilt.

Wörtlich heißt es in dem offenen Brief der neun Länder, man frage sich, "ob der Gerichtshof in einigen Fällen den Geltungsbereich der Konvention zu weit ausgedehnt und damit das Gleichgewicht zwischen den zu schützenden Interessen verschoben" habe. In bestimmten Fällen sei so die Fähigkeit der Länder eingeschränkt worden, "politische Entscheidungen in unseren eigenen Demokratien zu treffen".

EU-Staaten fordern neue Regeln für Abschiebungen

Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist die Zahl der festgestellten irregulären Grenzübertritte in die Europäische Union im vergangenen Jahr um 38 Prozent auf 239.000 Fälle  zurückgegangen. 2023 hatten die irregulären Einreisen den höchsten Stand seit fast zehn Jahren erreicht.

Dennoch forderten die EU-Staats- und Regierungschefs von der EU-Kommission bei ihrem Gipfel im Oktober 2024 "dringend" neue Abschieberegeln. Zuvor war der politische Druck in Deutschland, Österreich und anderen Ländern deutlich gestiegen.