Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Griechenland erneut wegen unterlassener Seenotrettung

15.10.2025 Pressemitteilung von Pro Asyl:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Griechenland im Fall eines Bootsunglücks, bei dem 16 Menschen starben, wegen mehrfacher Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Das Boot war im März 2018 vor der griechischen Insel Agathonisi in Seenot geraten, die griechische Küstenwache hatte trotz zahlreicher Notrufe und präziser Positionsdaten über 24 Stunden hinweg keine Rettungsversuche eingeleitet. Das aktuelle Urteil ist nicht die erste Verurteilung Griechenlands wegen Verstößen gegen das Recht auf Leben.

„Der Gerichtshof bestätigt, was Überlebende und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren sagen: Griechenland hätte diese Menschen retten können – und müssen“, sagt PRO ASYL-Geschäftsführer Karl Kopp. „Das Urteil reiht sich ein in eine Serie von Verurteilungen Griechenlands durch den EGMR wegen ausbleibender Rettungsversuche für Flüchtlinge in Seenot, darunter auch Urteile wegen tödlichen Schusswaffengebrauchs. Seenotrettung ist keine politische Verhandlungsmasse, sondern eine rechtliche Pflicht! Die EU muss endlich Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass niemand mehr an ihren Grenzen ertrinkt.“

Die Überlebenden von Agathonisi klagten mit Unterstützung der griechischen Schwesterorganisation von PRO ASYL, Refugee Support Aegean (RSA), vor dem EGMR und bekamen nun auf ganzer Linie Recht.

Erneut: Urteil gegen Griechenland wegen Verletzung des Rechts auf Leben

In seinem Urteil (F.M. und andere gegen Griechenland, Nr. 17622/21) stellte der EGMR gestern fest, dass Griechenland das in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbriefte Recht auf Leben verletzt hat. Nach Ansicht des Gerichtshofs ergriffen griechische Behörden keine geeigneten Maßnahmen zur Rettung der Menschen, obwohl sie bereits frühzeitig (am 16. März vormittags) über die unmittelbare Lebensgefahr informiert waren. Darüber hinaus verurteilte das Gericht Griechenland, weil die strafrechtlichen Ermittlungen zu dem Vorfall durch die zuständige Staatsanwaltschaft am Marinegericht von Piräus unzureichend waren und gravierende Mängel aufwiesen, was unter anderem zu erheblichen Lücken in der Beweiswürdigung führte.

Die tödliche Katastrophe Der Fall

Im konkreten Fall war ein Flüchtlingsboot in den frühen Morgenstunden des 16. März 2018 in der Nähe der griechischen Insel Agathonisi (bei Samos) gesunken. Kurz vor dem Untergang hatte eine junge Afghanin, die sich an Bord des Schiffes befand, einen Hilferuf samt genauer Koordinaten an ihren Bruder abgesetzt, der sich bereits in Griechenland befand. Dieser alarmierte sofort die griechischen Behörden und bat sie den ganzen Tag über vergeblich um Hilfe.

Die Menschen trieben stundenlang auf offener See im Wasser. Am späten Nachmittag waren 16 Menschen ertrunken, darunter sieben Kinder und zwei Säuglinge. Nur drei Erwachsene schafften es – teils mit ihren toten Kindern im Arm – ans Ufer. Die griechische Küstenwache leitete erst am 17. März vormittags einen Rettungseinsatz ein, nachdem die Überlebenden die Polizeistation auf Agathonisi erreicht hatten.

Eine ganze Reihe von Urteilen gegen Griechenland

Das Urteil ist nicht die erste Verurteilung Griechenlands durch den EGMR wegen Verstößen gegen das Recht auf Leben und wegen mangelhafter Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaft am Marinegericht von Piräus (wo auch das Strafverfahren gegen hochrangige Bedienstete der Küstenwache wegen des Untergangs eines Flüchtlingsschiffs vor der Stadt Pylos mit mehr als 600 Toten im Juni 2023 anhängig ist). So hatte der EGMR Griechenland im Jahr 2022 in einem wegweisenden Urteil wegen des Todes von elf Schutzsuchenden im Rahmen einer Pushback-Operation der griechischen Küstenwache im Januar 2014 vor der Insel Farmakonisi in allen zentralen Punkten verurteilt (Safi und andere gegen Griechenland, Nr. 5418/15).

Anwält*innen von Refugee Support Aegean (RSA) konnten zudem erreichen, dass der EGMR Griechenland in den vergangenen zwei Jahren zweimal wegen tödlicher Schüsse auf Flüchtlingsboote verurteilte (Alkhatib u.a. gegen Griechenland, 3566/16; Almukhlas und Al-Malik gegen Griechenland, 22776/18). Die Verfahren wurden von PRO ASYL unterstützt.

Unterstützung durch PRO ASYL

Seit 2018 stehen PRO ASYL und Refugee Support Aegean auch im Fall von Agathonisi an der Seite der Angehörigen und Überlebenden in ihrem langen Kampf für Gerechtigkeit und Aufklärung. Die in Deutschland lebenden Angehörigen und Überlebenden wurden zudem über den Rechtshilfefond von PRO ASYL unterstützt.