20.08.2025 Wegen des Hinhaltens droht dem Auswärtigen Amt nun ein gerichtlich verhängtes Zwangsgeld.
Dem Auswärtigen Amt droht ein Zwangsgeld, wenn es Afghanen mit einer Aufnahmezusage keine Visa erteilt. Das gehe aus einem Schriftsatz des Verwaltungsgerichts Berlin hervor, berichtet die Welt. Das Gericht hatte zuletzt 20 ähnlich gelagerte Eilbeschlüsse erlassen. (Tagesschau)
20.08.2025 Die Abschiebungen afghanischer Geflüchteter aus Pakistan in ihr Herkunftsland - auch solcher, die jetzt schon jahrelang auf ihre versprochene Ausreise nach Deutschland warten und als besonders gefährdet gelten - brachten erneut das Handeln bzw. Nichthandeln der Bundesregierung in den Fokus.
PRO ASYL und das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte haben Strafanzeige gegen zwei deutsche Bundesminister gestellt: Der Bundesminister des Auswärtigen, Johann Wadephul, und der Bundesminister des Innern, Alexander Dobrindt, haben sich nach Ansicht der Organisationen des Straftatbestands der Aussetzung und der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, weil sie zugelassen haben, dass Afghan*innen von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben wurden, obwohl sie eine Aufnahmezusage für Deutschland haben. (Pressemitteilung Pro Asyl)
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte vergangene Woche gesagt, es werde in jedem Einzelfall geprüft, ob eine rechtsverbindliche Verpflichtung zur Aufnahme bestehe. In jedem Fall werde auch eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt. Sei die Zusage nicht rechtsverbindlich oder verlaufe die Sicherheitsüberprüfung negativ, werde keine Aufnahme stattfinden, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mit. Für die notwendigen Prüfungen seien Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Pakistan. (Tagesschau)
... sagt Außenminister Johann Wadephul, dass Afghan*innen mit einer gültigen Aufnahmezusage selbstverständlich nach Deutschland geholt werden. Aber der Innenminister lässt prüfen und prüfen und prüfen und prüfen. In den Sozialwissenschaften gibt es dafür den Begriff der organisierten Verantwortungslosigkeit. Damit ist gemeint, dass zwar viel getan und der Anschein von Geschäftigkeit erweckt wird, aber tatsächlich nichts dabei herauskommt. Man folgt Regeln und komplexen Vorschriften, die alle beachtet werden wollen, und am Ende passiert – nichts. Jedenfalls nicht das, worum es eigentlich geht. Immer gibt es noch etwas zu überprüfen, noch ein Verfahren einzuhalten. (Martin Sökefeld, Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, taz)
Die Menschen wurden mehreren Sicherheitsüberprüfungen von verschiedenen Behörden unterzogen. Kein anderer Mensch, der in Deutschland Asyl beantragt, wird so durchleuchtet. Mir wird der Eindruck vermittelt, dass es nicht mehr um die Gefährdung des Einzelnen geht, sondern um die pauschale Unterstellung, alle Afghanen seien terrorverdächtig. Die Sicherheitsinterviews drehen sich vorwiegend darum, den Menschen nachzuweisen, eine Gefahr für Deutschland zu sein, und weniger darum, selbst in Gefahr zu sein. (Jule Klemm, Mission Lifeline, FR)
Überblick über die zitierten Texte:
- Tagesschau 20.08.2025: Einreiseberechtige Afghanen hingehalten Auswärtigem Amt droht gerichtliches Zwangsgeld
- Tagesschau 18.08.2025: Abschiebungen aus Pakistan Afghanen mit deutscher Aufnahmezusage abgeschoben
- Pressemitteilung 15.08.2025 von Pro Asyl: Nach Abschiebungen aus Pakistan nach Afghanistan: PRO ASYL und Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte stellen Strafanzeige gegen die Bundesminister Wadephul und Dobrindt
- taz 19.08.2025: Organisierte Verantwortungslosigkeit Gastbeitrag von Martin Sökefeld, Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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FR 20.08.2025: Sicherheitsprüfung für Ortskräfte aus Afghanistan: „Wie beurteilen Sie Ehebruch und Alkoholkonsum?“ Ein Gespräch mit Jule Klemm von MISSION LIFELINE
Im Folgenden die Beiträge im vollen Wortlaut:
- Tagesschau 20.08.2025: Einreiseberechtige Afghanen hingehalten Auswärtigem Amt droht gerichtliches Zwangsgeld
Das Auswärtige Amt hat eine Frist verstreichen lassen, um Afghanen mit Aufnahmezusage die Einreise zu ermöglichen. Nun müsse das Ministerium damit rechnen, dass das Gericht ein Zwangsgeld verhängt, berichtet die Welt.
Dem Auswärtigen Amt droht ein Zwangsgeld, wenn es Afghanen mit einer Aufnahmezusage keine Visa erteilt. Das gehe aus einem Schriftsatz des Verwaltungsgerichts Berlin hervor, berichtet die Welt. Das Gericht hatte zuletzt 20 ähnlich gelagerte Eilbeschlüsse erlassen.
Dabei geht es um Afghanen, denen Deutschland im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms eine Einreise zugesagt hat. An diese Aufnahmezusagen sei Deutschland rechtlich gebunden, weshalb Visa ausgestellt werden müssten, hieß es in der Begründung des Gerichts.
Urteil ist rechtskräftig
In der vergangenen Woche hatte das Auswärtige Amt eine Beschwerde gegen eine Entscheidung des Gerichts beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zurückgezogen. Damit wurde ein Urteil rechtskräftig, wonach einer Juraprofessorin und ihren 13 Familienangehörigen Visa erteilt werden müssen. Aktuell befindet sich die Familie in einem Flüchtlingslager in Pakistan.
Frist verstrichen
Das Verwaltungsgericht habe daraufhin das Auswärtige Amt aufgefordert, bis zum frühen Nachmittag darzulegen, welche Schritte unternommen würden und wurden, um Visa zu erteilen. Andernfalls drohe ein Zwangsgeld. Die Kammer werde nach einer möglichen Reaktion des Auswärtigen Amts einen Beschluss fassen, erklärte eine Sprecherin. Auf Nachfragen der Welt reagierte dieses nicht.
Laut Auswärtigem Amt hat Pakistan bereits 211 Afghanen mit deutscher Aufnahmezusage nach Afghanistan abgeschoben. Zuvor seien in Pakistan bereits mehr als 450 afghanische Staatsangehörige mit deutscher Aufnahmezusage verhaftet worden, von denen 245 nach Vermittlungen der Bundesregierung wieder aus Abschiebelagern entlassen worden seien. Insgesamt befinden sich noch rund 2.000 Afghanen in Pakistan, denen eine Aufnahme nach Deutschland zugesichert wurde.
Stand: 18.08.2025 14:55 Uhr
Hunderte Afghanen warten in Pakistan auf ihre Ausreise nach Deutschland - mehr als 200 von ihnen wurden von dort nun in ihr Herkunftsland abgeschoben. Die Bundesregierung will eine Rückkehr ermöglichen.
Pakistan hat nach Informationen der Bundesregierung in den vergangenen Tagen 211 Menschen aus dem deutschen Aufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen in ihr Herkunftsland abgeschoben. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts teilte mit, insgesamt seien zuvor rund 450 Menschen aus dem Programm von den pakistanischen Behörden festgenommen worden, mit dem Ziel der Abschiebung.
Die deutsche Botschaft in Islamabad und das Auswärtige Amt hätten durch Kontakte mit den pakistanischen Behörden erreicht, dass am vergangenen Wochenende 245 dieser Menschen aus den Abschiebelagern wieder freigekommen seien.
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Bundesregierung will Rückkehr ermöglichen
Für die Abgeschobenen habe man in Afghanistan mit Hilfe eines Dienstleisters eine Unterbringung organisiert. Die Bundesregierung bemühe sich unterdessen im Gespräch mit den pakistanischen Behörden, diesen 211 Menschen die Rückkehr nach Pakistan zu ermöglichen.
Insgesamt warten mehr als 2.000 Afghanen im Rahmen der verschiedenen Aufnahmeprogramme auf eine Ausreise nach Deutschland. Sie sind etwa ehemalige Ortskräfte oder gelten als besonders gefährdet. Da die deutsche Botschaft in Kabul seit der Machtübernahme durch die islamistischen Taliban im August 2021 geschlossen ist, durchlaufen sie in Pakistan ein Prüfverfahren.
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Innenministerium verlangt Sicherheitsprüfungen
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte vergangene Woche gesagt, es werde in jedem Einzelfall geprüft, ob eine rechtsverbindliche Verpflichtung zur Aufnahme bestehe. In jedem Fall werde auch eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt.
Sei die Zusage nicht rechtsverbindlich oder verlaufe die Sicherheitsüberprüfung negativ, werde keine Aufnahme stattfinden, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mit. Für die notwendigen Prüfungen seien Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Pakistan.
- Pressemitteilung von Pro Asyl: Nach Abschiebungen aus Pakistan nach Afghanistan: PRO ASYL und Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte stellen Strafanzeige gegen die Bundesminister Wadephul und Dobrindt
15.08.2025 PRO ASYL und das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte haben am heutigen Freitag Strafanzeige gegen zwei deutsche Bundesminister gestellt: Der Bundesminister des Auswärtigen, Johann Wadephul, und der Bundesminister des Innern, Alexander Dobrindt, haben sich nach Ansicht der Organisationen des Straftatbestands der Aussetzung und der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, weil sie zugelassen haben, dass Afghan*innen von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben wurden, obwohl sie eine Aufnahmezusage für Deutschland haben.
Pakistan hat am 13. August 2025 34 Afghan*innen mit deutscher Aufnahmezusage nach Afghanistan abgeschoben. In den Wochen zuvor sind mehr als 400 afghanische Staatsangehörige mit Aufnahmezusage festgenommen worden. Zudem wurden in der Nacht zum 14. August 2025 laut Medienberichten weitere 20 Afghan*innen mit Aufnahmezusage in Abschiebezentren in Islamabad inhaftiert, was auch der Bundesregierung bekannt ist. Aktuell sind noch um die 2.000 Afghan*innen mit deutscher Aufnahmezusage in Pakistan.
Große Gefährdung der Abgeschobenen in Afghanistan
“Seit genau vier Jahren herrschen die Taliban mit brutaler Gewalt. Den von den pakistanischen Behörden abgeschobenen Afghanen und Afghaninnen drohen willkürliche Inhaftierung, Misshandlungen oder gar Hinrichtungen. Diese Abschiebungen und die Gefährdung der Menschen sind Resultat deutschen Regierungshandelns. Statt den Menschen endlich die durch die Aufnahmezusagen versprochenen Visa zu erteilen, haben die deutschen Verantwortlichen sie immer weiter hingehalten – obwohl das Risiko der Abschiebungen bekannt war. Das muss Konsequenzen haben. Deswegen haben wir Anzeige gegen Bundesaußenminister Wadephul und Bundesinnenminister Dobrindt gestellt”, erklärt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
“Ehemalige afghanische Ortskräfte deutscher Regierungsorganisationen sind durch die Taliban besonders gefährdet. Die Taliban betrachten sie als Feinde, an denen sie sich rächen wollen. 300 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusagen des Ortskräfteverfahrens der Bundesregierung befinden sich aktuell in Pakistan. Viele von ihnen bereits seit mehr als acht Monaten. Die Abschiebung in die Hände der Taliban wäre für viele von ihnen der Tod”, sagt Alexander Fröhlich vom Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte.
“Meine Mandanten und Mandantinnen haben eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten, weil sie wegen ihrer früheren Tätigkeiten besonders gefährdet sind. Sie sollten in Pakistan auf ihre Ausreise nach Deutschland warten. Es hieß, dort seien sie sicher. Doch dass dies nicht stimmt, ist spätestens jetzt klar, denn mehrere von mir Vertretene wurden inhaftiert und abgeschoben. Dabei wurden Familien getrennt und selbst eine Minderjährige ohne ihre Eltern nach Afghanistan gebracht. Dort hat sie als Mädchen keinerlei Rechte. In einem anderen Fall hatte das Verwaltungsgericht Berlin im Eilverfahren das Auswärtige Amt bereits verpflichtet, Visa zu erteilen. Trotzdem ist nichts passiert. Meine Mandanten und Mandantinnen haben sehr große Angst”, sagt Rechtsanwältin Victoria Lies, die mehrere Afghan*innen mit Aufnahmezusage vertritt.
Bundesregierung macht sich strafbar
“Schon vor über einem Monat haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass die Bundesregierung sich strafbar macht, wenn Afghanen und Afghaninnen mit deutscher Aufnahmezusage von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben und der Gefahr von Misshandlungen bis hin zu Tötungen durch die Taliban ausgesetzt werden. Dies ist nun passiert. Die Staatsanwaltschaft Berlin ist jetzt verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und den Sachverhalt weiter zu ermitteln”, so Dr. Robert Brockhaus, Strafverteidiger in Berlin und Verfasser der Strafanzeige.
In einem Gutachten vom 8. Juli hat Dr. Robert Brockhaus die Strafbarkeit dieses Vorgehens bereits dargelegt. In diesem von PRO ASYL und dem Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte e.V. in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten heißt es: “Nach derzeitiger Sachlage ist davon auszugehen, dass sich die Verantwortlichen in den Ministerien und Behörden wegen § 221 Strafgesetzbuch [Aussetzung von Personen in hilflosen Lagen] strafbar machen, wenn es zu den von Pakistan angekündigten Abschiebungen von Menschen mit Aufnahmezusagen nach Afghanistan kommt. Vorzuwerfen wäre ihnen insbesondere, dass sie die Abschiebungen, durch die die Menschen voraussichtlich in die Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigungen geraten, nicht verhindert haben, obwohl ihnen das möglich war.“ Die Beschuldigten würden sich wegen weiterer Delikte strafbar machen, wenn die Abgeschobenen in Afghanistan misshandelt oder sogar getötet würden. Dass dies nach Abschiebungen aus Pakistan nach Afghanistan bereits passiert ist, bestätigte kürzlich ein UN-Bericht.
- taz 19.08.2025: Organisierte Verantwortungslosigkeit Gastbeitrag von Martin Sökefeld, Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Seit Tagen stürmt die Polizei in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad Gästehäuser und verhaftet dort Afghan*innen, die eine Aufnahmezusage für Deutschland haben. Hunderte wurden in Abschiebelager gebracht und mindestens 35 nach Afghanistan abgeschoben. Es handelt sich um Menschen, die wegen ihres politischen und gesellschaftlichen Engagements oder ihrer sexuellen Identität im Land der Taliban extrem gefährdet sind und deswegen in Deutschland Schutz zugesagt bekommen haben. Die Abschiebungen kommen nicht überraschend. Pakistan hat seit Jahresbeginn tausende Afghan*innen rigoros abgeschoben, selbst solche, die beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als Geflüchtete registriert waren.
Schon vor einem Jahr drängte die pakistanische Regierung darauf, dass Afghan*innen in einem humanitären Aufnahmeprogramm eines anderen Landes auch tatsächlich dorthin ausreisen müssen. Und was macht die Bundesregierung? Sie spricht mit hochrangigen Vertretern der pakistanischen Regierung – sagt das Auswärtige Amt. Sie prüft die Gültigkeit jeder einzelnen Aufnahmezusage – sagt Innenminister Alexander Dobrindt. Tatsächlich schafft die Regierung die Menschlichkeit ab.
Als die alte Regierung noch Afghan*innen aus den deutschen Aufnahmeprogrammen per Charter nach Deutschland holte, protestierte die Union lautstark. Inzwischen sagt Außenminister Johann Wadephul, dass Afghan*innen mit einer gültigen Aufnahmezusage selbstverständlich nach Deutschland geholt werden. Aber der Innenminister lässt prüfen und prüfen und prüfen und prüfen. In den Sozialwissenschaften gibt es dafür den Begriff der organisierten Verantwortungslosigkeit.
Damit ist gemeint, dass zwar viel getan und der Anschein von Geschäftigkeit erweckt wird, aber tatsächlich nichts dabei herauskommt. Man folgt Regeln und komplexen Vorschriften, die alle beachtet werden wollen, und am Ende passiert – nichts. Jedenfalls nicht das, worum es eigentlich geht. Immer gibt es noch etwas zu überprüfen, noch ein Verfahren einzuhalten.
Den Taliban ausgeliefert
Der Effekt ist, dass so viele Akteur*innen an einer Angelegenheit beteiligt sind, dass niemand mehr konkret für etwas verantwortlich ist. Die Verantwortung zersplittert im Wust der (Un-)Zuständigkeiten. Anstatt die gefährdeten Afghan*innen nach Deutschland zu holen und ihnen eine sichere Zuflucht zu bieten, sind sie den Abschiebungen und damit den Taliban ausgeliefert. Die organisierte Verantwortungslosigkeit der Bundesregierung hat dafür den Grundstein gelegt.
Alle Betroffenen sind mit gültigen pakistanischen Visa nach Islamabad gekommen, um dort die Einreise nach Deutschland zu beantragen. Aber die Prüfung der „Fälle“ dauerte schon unter der Vorgängerregierung so lange, dass inzwischen nahezu alle Visa abgelaufen sind. Seit einiger Zeit verlängern die pakistanischen Behörden keine Visa mehr. Damit sind die Afghan*innen „illegal“ in Pakistan und können abgeschoben werden. Die deutschen Behörden haben ihre Illegalität produziert. Aber natürlich wollen deutsche Behörden nicht dafür verantwortlich sein, man muss sich ja schließlich an die Verfahren halten.
Und wie gesagt: Afghan*innen in den Aufnahmeprogrammen werden in Islamabad einer eingehenden Sicherheitsüberprüfung durch deutsche Sicherheitsbehörden – Verfassungsschutz, BKA, Bundespolizei – unterzogen. Das dauert. De facto wird seit einigen Monaten in Islamabad nicht mehr geprüft.
Entzogene Aufnahmeerklärungen
Die Bundesregierung nahm den kurzen militärischen Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan Anfang Mai zum Anlass, nach dem Ende der Feindseligkeiten und dem Waffenstillstand zwischen beiden Ländern das Sicherheitspersonal aus der Botschaft in Islamabad abzuziehen. Aus Sicherheitsgründen, selbstverständlich. Es geht sehr viel um Sicherheit bei diesen Prüfverfahren, aber niemals um die Sicherheit der gefährdeten Afghan*innen. Gleichzeitig verringert sich die Zahl der Afghan*innen in den deutschen Aufnahmeprogrammen in Islamabad auf wundersame Weise. Waren es vor gut einem Monat noch etwa 2.600 Menschen, ist inzwischen nur noch von etwas über 2.000 die Rede.
In einer Hinsicht gehen die Prüfungen weiter und Afghan*innen bekommen ihre Aufnahmeerklärungen entzogen. Zwischen den verschiedenen deutschen Aufnahmeprogrammen gibt es einen feinen juristischen Unterschied: Nur die Afghan*innen im Bundesaufnahmeprogramm bekommen eine Aufnahmezusage, die nur durch ein förmliches Widerrufsverfahren entzogen werden kann. Betroffene können dagegen Einspruch erheben und klagen. Die Aufnahmeerklärungen der älteren Menschenrechtsliste und des Ortskräfteverfahrens können dagegen schnell und einfach per E-Mail entzogen werden.
Die Betroffenen müssen die Unterkünfte in Islamabad verlassen und landen auf der Straße. „Illegal“ und in der Folge der Abschiebung völlig schutzlos ausgeliefert. Für sie ist Deutschland ja nicht mehr zuständig. Die Bundesregierung will keine gefährdeten Afghan*innen aufnehmen, sondern die humanitären Aufnahmeprogramme abschaffen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, frei nach Friedrich Merz, Pakistan dabei die „Drecksarbeit“ für die Bundesregierung macht.
Vielleicht ein Lichtblick: Die Bundesregierung hat ihre Beschwerde gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zurückgezogen, dem zufolge einer afghanischen Familie mit einer gültigen Aufnahmezusage sofort ein Visum ausgestellt werden muss. Allerdings sagt das Auswärtige Amt, dass nun noch diverse Vorbereitungen getroffen werden müssen und dass sich das Verfahren hinzieht, unter anderem weil bei den pakistanischen Behörden die Ausreisegenehmigung für die Familie beantragt werden muss. Vielleicht ist die Familie dann schon abgeschoben. Die organisierte Verantwortungslosigkeit geht weiter. Die Drecksarbeit auch.
Die FR veröffentlichte ein Gespräch mit Jule Klemm von MISSION LIFELINE:
- FR 20.08.2025: Sicherheitsprüfung für Ortskräfte aus Afghanistan: „Wie beurteilen Sie Ehebruch und Alkoholkonsum?“
Ehemalige Ortskräfte aus Afghanistan warten in Pakistan und sind von Abschiebung bedroht. Ihnen droht Folter. Absurde Sicherheitsfragen bremsen ihre Rettung.
Was wird aus den Menschen aus Afghanistan, die in Pakistan festsitzen und keine Ausreisegenehmigung erhalten? Die Frankfurter Rundschau von Ippen.Media hat sich mit Jule Klemm MISSION LIFELINE unterhalten. Insbesondere die mehrfachen Sicherheitskontrollen scheinen der Verzögerung zu dienen.
Frau Klemm, die Bundesregierung hat das Aufnahmeprogramm für Afghan:innen gestoppt. Was ist konkret der Unterschied zur Vorgehensweise der Ampel?
Seit dem Regierungswechsel im Frühjahr 2025 wurden keine weiteren Afghan:innen mit Aufnahmezusage mehr eingeflogen. Stattdessen gab es einen Abschiebeflug mit Afghan:innen aus Deutschland. Die Afghan:innen werden als Bedrohung dargestellt und nicht als Opfer eines unterdrückten, frauenverachtenden und willkürlichen Systems. „Freiwillige“ Aufnahmeprogramme wurden gestoppt. Als hätte sich die Situation in Afghanistan für die Menschen verbessert. Wir als meldeberechtigte Stelle haben keine Möglichkeit mehr, der Bundesregierung weitere gefährdete Afghan:innen vorzuschlagen. Dabei kommen stets Hilferufe aus Afghanistan, Menschen werden verhaftet, gefoltert und müssen versteckt leben.
Wir müssen juristisch kämpfen, damit die Zusagen von Evakuierungen für Menschen, die in Pakistan noch auf ein Visum warten, endgültig umgesetzt werden. Diese Menschen haben den demokratischen Werten der Ampel vertraut, ihr Hab und Gut verkauft, um Pässe und Visa zu kaufen. Die aktuelle Regierung überprüft die Fälle erneut und widerruft sie ohne Angabe von Gründen. Es scheint, als würden sie Gründe herbeiziehen, um keine Visa erteilen zu müssen, sodass am Ende niemand von den 2.300 Menschen, die noch in Pakistan warten, nach Deutschland kommt.
Ortskräfte aus Afghanistan haben moralischen deutschen Werten vertraut
Innenminister Dobrindt hat angekündigt, „Einzelprüfungen“ vorzunehmen. Sind die Menschen nicht mehrfach durchgeprüft worden?
Die Menschen wurden mehreren Sicherheitsüberprüfungen von verschiedenen Behörden unterzogen. Kein anderer Mensch, der in Deutschland Asyl beantragt, wird so durchleuchtet. Mir wird der Eindruck vermittelt, dass es nicht mehr um die Gefährdung des Einzelnen geht, sondern um die pauschale Unterstellung, alle Afghanen seien terrorverdächtig. Die Sicherheitsinterviews drehen sich vorwiegend darum, den Menschen nachzuweisen, eine Gefahr für Deutschland zu sein, und weniger darum, selbst in Gefahr zu sein.
Zur Person Jule Klemm arbeitet seit Oktober 2022 bei MISSION LIFELINE International. Sie hat die Projektleitung für das Afghanistan-Projekt. Ihr Antrieb ist es, sichere Fluchtwege zu gestalten, damit niemand mehr auf der Flucht sterben oder schwerwiegende Traumata erleben muss.
Was hat das mit den Sicherheitsprüfungen auf sich? Kritiker:innen sagen, diese würden aus Kalkül ständig wiederholt, um die Aufnahme zu verzögern.
Fragen werden im Sicherheitsinterview mehrfach gestellt, ohne weitere Erklärungen, bis eine manipulierte Antwort erzwungen wird. Einige Beispiele für die gestellten Fragen sind:
- Welche der folgenden Gruppen finden Sie akzeptabler: die Taliban, der IS oder die Hamas? Und warum?
- Wie beurteilen Sie Ehebruch, Apostasie, Alkoholkonsum und Tabakkonsum?
- Was ist Ihre Meinung zum Konflikt zwischen Palästina und Israel?
- Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Töchter oder Ihre Frau an öffentlichen Orten wie Stränden oder Schwimmbädern freizügige Kleidung tragen würden?
„Den Menschen wird unterstellt, die Werte der Taliban zu vertreten“
Diese Fragen werden Minderjährigen gestellt, die gar nicht wissen, was Apostasie ist. Oder Erwachsenen, die sich nicht mit Politik beschäftigen. Es sind Fragen, die offensichtlich eine falsche Antwort generieren sollen. Den Menschen wird unterstellt, die Werte der Taliban zu vertreten, vor denen sie weggelaufen sind und vor denen sie sich verstecken. Es sind Fragen, die darüber entscheiden, ob der Afghane oder die Afghanin in Sicherheit reisen darf oder zurück in den Tod geschickt wird. Es geht bei diesen Fragen weniger darum, die Gefährdung der Person zu verstehen, sondern eine Ausreise zu verhindern.
Warum, Ihrer Einschätzung nach, verteilt die Regierung nicht einfach Visa an die verbliebenen Ortskräfte, die bereits ein Einreiserecht besitzen? Liegt das am negativen Framing?
Das weiß ich nicht. Eigentlich hatten die Ortskräfte in der Politik immer ein besseres Image als die Gruppe aus dem Bundesaufnahmeprogramm. Doch seit dem Fall von Kabul haben wir gemerkt, dass Deutschland immer wieder versucht hat, Menschen ihren Titel als Ortskraft abzusprechen. Im Vorhinein wurden Verträge mit Subunternehmern geschlossen, um im schlimmsten Fall nicht für diese Menschen verantwortlich zu sein.
Ausreise nach Deutschland: Verfolgung und Folter drohen Ortskräften aus Afghanistan
Traurigerweise sprechen die wenigsten noch von den Ortskräften, und gerade sie, sowie Menschen, die im Militär gearbeitet haben, leiden unter extremen Verfolgungen. Ich denke, Deutschland möchte im Allgemeinen die Migration eindämmen, egal wo oder wie. Zudem unterstelle ich Deutschland auch Rassismus, besonders gegenüber muslimischen Menschen, was eine Aufnahme von Menschen aus muslimischen Ländern zusätzlich erschwert, auch den Ortskräften, die in Afghanistan für Deutschland gearbeitet haben.
Wie schätzen Sie die Lage in Afghanistan (und Pakistan) ein für diejenigen, die hätten ausreisen dürfen – aber dennoch abgeschoben werden?
Es liegen Erkenntnisse darüber vor, dass es bereits Verhaftungen und Folter von abgeschobenen Afghan:innen aus Pakistan gegeben hat. Die Menschen erleben ein deutlich höheres Risiko, gefoltert zu werden, da offensichtlich ist, dass sie Afghanistan aufgrund der Taliban verlassen haben und ihre Werte nicht teilen. Die Taliban betrachten sie als Feinde ihrer Ideologie und schüchtern sie daher mit allen Mitteln ein. Wenn Menschen in Afghanistan sterben, nachdem sie von Pakistan abgeschoben wurden – wie letzte Woche 35 Menschen – hat Deutschland Menschen auf dem Gewissen und muss mit Konsequenzen rechnen, da es die Verantwortung für deren Tod trägt.