Italien und die Seenotrettung - Kommt nach der Wahl die Blockade?

06.10.2022 Rainer van Heukelum von der Bonner Lokalgruppe der Seebrücke sprach bei der Mahnwache am 5. Oktober zum Wahlausgang in Italien und die absehbaren Folgen für die Seenotrettung. Wir zitieren mit Dank seine Rede:

 

Eine staatliche Seenotrettung gibt es im Mittelmeer schon lange nicht mehr, stattdessen sind Freiwillige im Einsatz. Und so hören wir seit einiger Zeit beispielhaft immer wieder Meldungen wie diese:

- August 22: Die Geo Barrents mit insgesamt 659 Flüchtlingen an Bord hat nach tagelangem Warten die Erlaubnis zum Anlegen in Italien erhalten. Die Behörden hatten der Crew den Hafen von Tarent zum Anlanden zugewiesen. Die Wartezeit von annähernd neun Tagen war nach ihren Aussagen eine der längsten Blockaden, die das Team je erlebt habe.

- August 22: Nach rund einer Woche Warten darf die private Rettungsorganisation SOS Mediterranée knapp 380 im Mittelmeer gerettete Menschen nach Italien bringen. Die italienischen Behörden hatten dem Schiff Ocean Viking den Hafen von Salerno südlich von Neapel zugewiesen.

- September 22: Das neue deutsche Rettungsschiff Humanity 1 hat mit knapp 400 Menschen an Bord die Zusage erhalten, in Süditalien anlegen zu dürfen. Trotz freudiger Erleichterung kritisierte die NGO aber, dass der zugeteilte Hafen 42 Stunden Fahrtzeit entfernt sei. Manche der Geretteten seien schon seit zwei Wochen an Bord.

Diese Beispiele zeigen die (noch) aktuelle Situation auf dem Mittelmeer. Eine staatlich oder Eu-organisierte Seenotrettung gibt es nicht. Im Gegenteil: die EU finanziert die libysche Küstenwache, die Migrantenschiffe abfängt und deren Insassen wieder in die libyschen Internierungslager zurückbringt. Es retten nur zivile Rettungsschiffe, diese müssen oft tagelang warten, ehe ihnen von Italien ein Hafen zugeteilt wird, und das EU-Land Malta antwortet seit Langem schon gar nicht mehr auf Anfragen.

Diese an sich schon unhaltbare Situation, die dazu führt, dass in diesem Jahr im zentralen Mittelmeer nach Angaben der UN schon 1039 Menschen ums Leben kamen bzw. vermisst werden, könnte sich jetzt nach dem Ausgang der Wahlen in Italien am 25. September aber noch verschärfen.

Die Fratelli, die rechtspopulistische Lega von Matteo Salvini und die konservative Forza Italia von Ex-Premier Silvio Berlusconi kommen demnach im Senat zusammen auf 112 der 200 Sitze, in der Abgeordnetenkammer auf 235 von 400. Mit der komfortablen Mehrheit kann die Rechtsallianz regieren, wenn sie sich wie erwartet auf eine Regierungskoalition einigt und von Staatspräsident Sergio Mattarella den Regierungsauftrag erhält. Die Chefin der stärksten Einzelpartei Fratelli d'Italia, Giorgia Meloni, dürfte in dieser Konstellation Ministerpräsidentin werden.

Dieser Wahlausgang lässt nichts Gutes erwarten, nimmt man Ernst, was aus ihren Reihen vor der Wahl geäußert wurde. In ihrem Programm für den Wahlkampf ist die Lage auf dem Mittelmeer ein wichtiger Punkt. Meloni und ihre zwei Verbündeten Matteo Salvini (Lega) und Silvio Berlusconi (Forza Italia) wollen Italien abriegeln für Migrant*innen. Und die libyschen Sicherheitskräfte dürften laut Meloni gerne mithelfen. Der Willen der Wahlfavoritin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d'Italia: eine Seeblockade schon vor den Küsten Nordafrikas, Camps für die Geflüchteten, frühzeitiges Aussortieren der Nicht-Asylberechtigten. Salvini, der sich im Fall des Seenotrettungsschiffs „Open Arms“ wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauchs aus seiner Zeit als Innenminister vor Gericht verantworten muss, hatte im Wahlkampf vor allem ein Thema: die Migration über das Mittelmeer. Nachdem am 27.8. rund tausend Menschen auf der Insel Lampedusa ankamen, twitterte er: „Verrückt, beschämend, katastrophal“. Schuld hätten die Seenotrettungsorganisationen und die EU: “Brüssel kümmert sich nicht um die Verteidigung der Grenzen und die Sicherheit der Bürger.“

Aber warum kann Salvini das Thema so hochkochen und warum verfängt es bei den Bürgerinnen und Bürgern?

Das liegt sicher auch daran, dass die Vorstöße der EU, Italien Flüchtlinge abzunehmen, bisher meist im Sande verlaufen. Die Malta-Vereinbarung von 2018, angestoßen vom damaligen Innenminister Horst Seehofer sah vor, dass andere EU-Staaten Malta und Italien freiwillig Menschen für ihre Asylverfahren abnehmen, die von NGO-Rettungsschiffen im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden. Tatsächlich nahm Deutschland nach Auskunft des BMI seit 2018 über diesen sogenannten Malta-Mechanismus insgesamt 936 Menschen auf – 502 aus Malta und 436 aus Italien. In Italien sind im gleichen Zeitraum 197000 Menschen über das Mittelmeer gekommen! Seit Juni 2021 kamen gerade einmal 23 Menschen über den Mechanismus nach Deutschland.

Und unsere neue Regierung? Die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht, „mit mehr Ländern Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus weiter(zu)entwickeln“. Seinerzeit hatte Seehofer zugesagt, dass Deutschland Italien und Malta 25% der von den NGOs Geretteten abnehmen werde. Doch seit Regierungsübernahme von SPD, Grünen und FDP liegt der Anteil derer, die Deutschland für das Asylverfahren übernommen hat bei 0,2 %!

Immerhin verkündete die neue Innenministerin Nancy Feser, nach der EU-Innenministerkonferenz im Juni einen neuen Solidaritätsmechanismus. Es sind 21 Staaten, die den freiwilligen Solidaritätsmechanismus am 22. Juni unterschrieben hatten. Sie können Italien, Spanien, Malta, Griechenland und Zypern entweder Flüchtlinge abnehmen oder mit Geld und Sachleistungen helfen. 13 Staaten wollen sich an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen, sie haben Zusagen für insgesamt gut 8000 Menschen gemacht. Deutschland nimmt fast die Hälfte (3500), im August sollten die ersten Menschen aus Italien umgesiedelt werden.

Ob das ein Ansatz ist, der Italien zeigen kann, dass es nicht allein gelassen wird?

Angesichts der Tatsache, dass bis Ende September in 2022 schon 68200 Migrant*innen an Italiens Küsten ankamen gegenüber 43.200 im Vorjahreszeitraum, hängt das sicher auch davon ab, ob die Anzahl der Plätze in diesem Mechanismus groß genug ist.

Erste Fakten - wie die im Vorfeld der Wahlen vollzogene Festsetzung eines Rettungsschiffes, der Sea Watch 3, - deuten eher darauf hin, dass sich die Lage für die Seenotretter*innen zuspitzen wird.

Ihre Reaktionen nach dem Wahlausgang waren dementsprechend. Die Leute von Sea-Eye z.B. sind entsetzt. „Lager für Geflüchtete?“, fragt Gorden Isler. Derartige Versuche seien schon auf den griechischen Inseln gescheitert, sagt der Vorsitzende des Regensburger Vereins Sea-Eye und erinnert an teils chaotische Zustände dort in den vergangenen Jahren. Wegen der griechischen Seeblockaden wagen viele Migranten riesige Umwege, um etwa von der Türkei oder dem Libanon direkt nach Italien zu gelangen. „Die Menschen werden Wege finden. Diese Wege könnten dann noch gefährlicher und noch tödlicher sein.“ Man stelle sich bei "Sea-Eye" auf das Schlimmste ein, so Isler. Er befürchtet, dass die neue Regierung die italienischen Häfen dichtmachen wird. "Giorgia Meloni und ihr Verbündeter Matteo Salvini haben das in der Vergangenheit ja schon explizit so angekündigt und wir nehmen das sehr ernst".

Auch die politische Sprache werde nun rassistischer werden, schätzt Isler. Laut ihm führt das wiederum zu mehr Feindseligkeit und Hass gegen Flüchtlinge – auch in der Bevölkerung. Zusammen mit anderen Seenotrettungsorganisationen und Politikern wolle die Organisation jetzt Strategien suchen, wie man sich gegen die neue Regierung wappnen kann.

Die Organisation Sea-Watch hat eine ganz eigene Reaktion gezeigt: „Unsere Antwort darauf und auf das Wahlergebnis ist, ein neues Schiff aufs Mittelmeer zu schicken – die „Sea-Watch 5“, ein 58 Meter langes Versorgungsschiff, technisch einwandfrei, nur 12 Jahre alt. Es ist so eine kleinere Zielscheibe für Kriminalisierungsversuche der italienischen Regierung“, sagte Mattea Weihe, Sprecherin der Seenotrettungs-NGO Sea Watch in Deutschland in einem Interview Ende September.

Das Fazit zur Bedeutung des Ausgangs der italienischen Wahlen auch für die europäische Ebene, das er am Ende des Interviews zieht, möchte ich hier ausdrücklich teilen:

Der Rechtsruck ist ja ein europäischer Trend und hat die europäische Politik in dem Bereich insgesamt schon in der Vergangenheit stark geprägt. Für die Menschenrechtsorganisationen werden es anstrengende Zeiten, wenn rechte Parteien, rechte Figuren an Popularität und Macht gewinnen. Es nun ist wichtig, dass die Menschenrechtsverteidiger sich zusammentun und dagegen ankämpfen. Man wird sich anschauen müssen, was im Kontext politischer Abkommen, bei der Umverteilung und anderen politischen Tools passiert und wo es hingeht. Aber klar ist: Es wird schwieriger.“