Libyen: Massenverhaftungen von Migrant*innen

12.01.2022 Wieder kam es in Libyen zu massenhaften und gewaltsamen Verhaftungen Schutzsuchender und Migrant*innen. Vor dem Lokalbüro des UNHCR in Tripolis/Libyen hatten Hunderte in einem Sitzstreik wegen ihrer äußerst prekären Lebensumständen protestiert. Wir finden dazu zwei Berichte und einen Kommentar, die wir zitieren:

Die Webseite AFRICA live  am 11.01.2022:

Libyen: Hunderte demonstrierende Migrant:innen in Tripolis willkürlich festgenommen

„Mehr als 600 Migrant:innen, Asylbewerber:innen und Geflüchtete, die friedlich für ihre Umsiedlung, ihren Schutz und ihre Evakuierung aus Libyen demonstrierten, wurden verhaftet und in das Internierungslager Ain Zara im Süden von Tripolis gebracht“, erklärt Gabriele Ganci, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Libyen. „Bereits Hunderte Migrant:innen, Geflüchtete und Asylbewerber:innen werden in überfüllten Zellen und unter unwürdigen Lebensbedingungen festgehalten.

Während des wöchentlichen Besuchs in Ain Zara, bei dem die Inhaftierten medizinisch und psychisch betreut werden, haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen Patient:innen mit Stichwunden, Verletzungen durch Schläge und mit Anzeichen von Schock und Traumata behandelt, die sie bei den erzwungenen Festnahmen erlitten haben. Unter ihnen waren auch Menschen, die während der Razzien geschlagen und von ihren Kindern getrennt wurden.“

Ellen van der Velden, Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen in Amsterdam, erklärt weiter: „Diese Vorkommnisse beweisen einmal mehr, wie Migrant:innen willkürlich inhaftiert werden, was praktisch jedem Migranten in Libyen jederzeit passieren kann. Diese Menschen werden sogar einfach deswegen inhaftiert, weil sie sich für grundlegenden Schutz, Sicherheit und Behandlung im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht einsetzen.“

„Wir fordern die libyschen Behörden erneut auf, die Massenverhaftungen zu stoppen. Wir fordern die Behörden auf, eine menschenwürdige Alternative zur Inhaftierung zu finden. Wir fordern die EU auf, ihre Bemühungen einzustellen, die ein nicht enden wollendes System der Inhaftierung, des Missbrauchs und der Gewalt in Libyen unterstützen.“ (MSF)

 

nd - der tag, 11.01.2022

Im Visier der libyschen Milizen

Geflüchtete werden Opfer willkürlicher Festnahmen

Libysche Sicherheitskräfte sind erneut gewaltsam gegen Migranten und Flüchtlinge vorgegangen. In dem Tripolitaner Stadtteil Ain Zara fuhren am frühen Montagmorgen gepanzerte Fahrzeuge der sogenannten Jansour-Brigade und anderer Milizen auf. Vermummte Uniformierte gingen dann gegen einen Sitzstreik Hunderter Menschen aus dem Südlichen Afrika vor. Nach Angaben libyscher Medien wurden über 600 Menschen festgenommen. Die Migranten und Flüchtlinge hatten vor dem lokalen Hauptquartier des Flüchtlingshilfswerks UNHCR gegen ihre Lebensumstände protestiert.

In den vergangenen Monaten hatten unter dem Befehl des Innenministeriums stehende Bewaffnete mehrere Unterkünfte in der Zwei-Millionen-Stadt Tripolis geräumt. In dem Stadtteil Gargaresch waren alle Schwarzen Geflüchteten aus ihren Wohnungen geholt oder auf offener Straße verhaftet und auf Pick-ups abtransportiert worden.

Nach Misshandlungen und Mangel an Nahrungsmitteln brach in einem Gefängnis ein Aufstand aus; mehreren Tausend der zuvor Festgenommenen gelang die Flucht in die Industrieviertel wie Ain Zara. Bei libyschen Firmen verdienen die Migranten als Tagelöhner zumindest das Geld zum Überleben. Doch seit die Regierung von Übergangspremier Abdelhamid Dbaiba immer wieder gegen die insgesamt auf über 20 000 geschätzten Nicht-Libyer in Tripolis vorgeht, trauen sich immer weniger Libyer, den Menschen eine Wohnung zu vermieten.

Nach Misshandlungen und Mangel an Nahrungsmitteln brach in einem Gefängnis ein Aufstand aus; mehreren Tausend der zuvor Festgenommenen gelang die Flucht in die Industrieviertel wie Ain Zara. Bei libyschen Firmen verdienen die Migranten als Tagelöhner zumindest das Geld zum Überleben. Doch seit die Regierung von Übergangspremier Abdelhamid Dbaiba immer wieder gegen die insgesamt auf über 20 000 geschätzten Nicht-Libyer in Tripolis vorgeht, trauen sich immer weniger Libyer, den Menschen eine Wohnung zu vermieten.

Die im Oktober aus Gargaresch und nun am Montag aus Ain Zara Vertriebenen fordern von den libyschen Behörden und vom UNHCR daher einen offiziellen Aufenthaltsstatus und bessere Lebensbedingungen oder die Ausreise aus Libyen. Erst letzten Sommer hatten sich die Uno und die libyschen Behörden darauf geeinigt, die meisten Gefängnisse für Migranten zu schließen und die Integration der Menschen in Tripolis zu fördern. Doch libysche und aus den Herkunftsländern stammende Menschenhändler unterwanderten das Abkommen.

Der libysche Menschenrechtsaktivist Almoatassam Senoussi berichtet gegenüber »nd«, dass er und seine Kollegen immer wieder von unbekannten Männern daran gehindert werden, den vor dem UN-Gebäude übernachtenden Menschen zu helfen. Bis vor Kurzem brachte er den aus ihren angemieteten Wohnungen Vertriebenen Lebensmittel und Medikamente. »Wir haben Mütter mit Kindern und Menschen mit Knochenbrüchen versorgt, bis uns diese Männer mit den libyschen Milizen gedroht haben, mit denen sie wohl zusammenarbeiten«, so Senoussi.

Abhörprotokolle der italienischen Staatsanwaltschaft in Catania erklären, warum die Allianz der Menschenhändler jeden Kontakt ihrer Kunden mit der Außenwelt fürchtet. »Der Transport der Leute ist von der Abreise bis zur Ankunft auf Sizilien genauestens geplant«, sagt die Staatsanwältin Lina Trovato, die auf Mafia-Fälle und Schmugglernetzwerke spezialisiert ist.

Migranten, die das »nd« über soziale Medien am Dienstag in Tripolis erreicht hat, berichten vom Abtransport der in Ain Zara Festgenommenen in die Küstenstädte Sabratha und Zauwia, von wo in den letzten Wochen trotz der winterlichen Stürme immer wieder Boote ablegten. »Man will uns aus Tripolis weghaben«, berichtet ein Mann aus der Elfenbeinküste. Der Menschenrechtsaktivist Tarik Lamloum berichtete, dass die Truppen bei ihrer Aktion sämtliche Zelte, provisorische Küchen und Behelfsunterkünfte zerstörten. In sozialen Medien kursieren Videos von brennenden Zelten und in Panik fliehenden Migranten.

Aktivisten wie Senoussi kritisieren, dass die Helfer der Vereinten Nationen im Dezember ihre Stadtteilzentren in Tripolis geschlossen hatten. Dort versorgte das UNHCR die aus den Camps Entlassenen unter anderem mit Lebensmitteln und Identitätskarten. »Die Milizen glauben, mit dem strikten Vorgehen gegen die Fremden die Unterstützung der Bevölkerung zurückzugewinnen«, sagt Senoussi. Er hatte bis zum letzten Moment Schwangere und Verletzte heimlich zu Ärzten gebracht.

Politische Beobachter nehmen an, dass auch der derzeitige Premier Dbaiba mit der Räumung des Lagers in Ain Zara seinen Ruf als Macher verfestigen will. Sein Mandat ist am 25.Dezember abgelaufen. Nachdem die geplanten Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben wurden, will der Geschäftsmann aus Misrata zusammen mit seinen fast 30 Ministern weiter im Amt bleiben.

 

Kommentar Schweigende Zustimmung. Mirco Keilberth über die Verhaftung Hunderter Migranten in Libyen

»Wir haben drei Monate lang gewartet, bis man uns wie versprochen hier herausholt, aber insgeheim habe ich jeden Tag damit gerechnet, dass so etwas wieder passiert.« Die Aussage eines Migranten aus dem Sudan über die brutale Razzia libyscher Sicherheitskräfte vom vergangenen Montag spricht Bände über das Leben in dem ehemals bei Gastarbeitern beliebten Libyen. Vor nicht einmal drei Monaten war Mohamed aus seiner mit Freunden angemieteten Wohnung in dem Stadtteil Gargaresch entführt worden, nun zwängten ihn Vermummte in einen gepanzerten Transportpanzer und brachen ihm bei der Aktion die Beine.

Wie schon bei der Räumung des Protests vor dem Hauptquartier des UN-Flüchtlingswerkes im Oktober ließen dessen Mitarbeiter sich nicht blicken. Kritische Stimmen von Diplomaten gegenüber der Regierung Dabaiba gibt es nur wenige, denn sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch die Vereinten Nationen fürchten um ihre Visa und Arbeitsgenehmigungen für ihre Mitarbeiter.

Die Europäische Union keinen Gefallen, wenn sie diese menschliche Katastrophe ignoriert, denn schon bald könnten radikale Gruppen die Verzweiflung der Menschen wie schon 2014 für sich nutzen. Dabei gibt es einen Ausweg. Das derzeitige Machtvakuum kann mit massivem Sanktionsdruck auf die politischen Parteien und der Planung einer robusten EU-Wahlbeobachtermission - wie bereits 2012 und 2014 - beendet werden. Gut geplante Neuwahlen und die Legalisierung des Status von Migranten in Libyen wären nichts Neues. Es ist längst nur noch eine Minderheit von Migranten, die von Libyen aus nach Europa will. Doch indem die EU sie den Milizen überlässt und sich in Libyen nur oberflächlich engagiert, zwingt man die Menschen de facto dazu, in die Boote zu steigen.