08.11.2025 Erneut ein richterliches Urteil gegen Abschiebung:
In Polen bestünden "systemische Mängel des Asylverfahrens". Aktuell hätten Dublin-Rückkehrer und Personen, die über Belarus eingereist sind, in Polen "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zum Asylverfahren", so das Gericht. Diesen Personen "drohen deshalb Inhaftierung und Abschiebungen in ihre Herkunftsländer". Aufgrund dieser Mängel sei die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland übergegangen, der BAMF-Bescheid rechtswidrig.
Legal Tribune Online legt diese Entscheidung dar:
- LTO 06.11.2025: VG Hannover lehnt Rücküberstellung ab Asylverfahren in Polen leidet unter "systemischen Mängeln"
Wer über Belarus und Polen nach Deutschland reist, kann dort zulässigerweise einen Asylantrag stellen, entschied das VG Hannover. In Polen bestünden systemische Mängel des Asylverfahrens, die einer Dublin-Rücküberstellung entgegenstehen.
Seit die Rapid Support Forces die Stadt Al-Faschir in der vergangenen Woche eingenommen haben, erreicht der Bürgerkrieg im Sudan einen neuen Höhepunkt der Brutalität. Es kommt zu Massenmorden und Vergewaltigungen, die Blutlachen sind sogar auf Satellitenbildern zu erkennen. Es steht der Vorwurf des Völkermordes im Raum, die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs haben Ermittlungen angekündigt.
Der blutige Machtkampf ist im Frühjahr 2023 ausgebrochen. Im September gelang einem 33-jährigen Mann aus dem Sudan die Flucht, er reiste nach Aufenthalten in Saudi-Arabien, Russland und Belarus im Sommer 2024 nach Polen ein, wo er einen Asylantrag stellte. Er gab an, bei seiner Ankunft an der belarussisch-polnischen Grenze geschlagen worden zu sein. Nach zwei Wochen reiste er weiter nach Deutschland, wo er erneut internationalen Schutz beantragte. Diesen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schließlich als unzulässig ab, denn nach den Dublin-Regeln sei Polen für das Asylverfahren zuständig, das sich zur Rücknahme auch bereiterklärt hatte. Zudem ordnete das BAMF die Abschiebung des Mannes nach Polen an.
Gegen diesen Bescheid klagte der Mann und hatte damit vor dem Verwaltungsgericht (VG) Hannover Erfolg (Urt. v. 15.10.2025, Az. 15 K 3036/24). In Polen bestünden "systemische Mängel des Asylverfahrens". Aktuell hätten Dublin-Rückkehrer und Personen, die über Belarus eingereist sind, in Polen "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zum Asylverfahren", so das Gericht. Diesen Personen "drohen deshalb Inhaftierung und Abschiebungen in ihre Herkunftsländer". Aufgrund dieser Mängel sei die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland übergegangen, der BAMF-Bescheid rechtswidrig.
Bei Einreise aus Belarus: Asylanträge chancenlos
Maßgebliche Rechtsgrundlage ist die Dublin-III-Verordnung. Die sieht vor, dass im Regelfall der Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem der Schutzsuchende zuerst EU-Boden betritt. Bereits danach wäre Polen hier zuständig, zudem hat der Sudanese dort zuerst einen Antrag gestellt. Das VG Hannover wendete jedoch Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 der Verordnung an, wonach die Zuständigkeit dann auf den um Überstellung ersuchenden Mitgliedstaat – hier Deutschland – übergeht, wenn das Asylverfahren im eigentlich zuständigen Staat "systemische Schwachstellen" aufweist, "die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen".
Solche Mängel sah die als Einzelrichterin entscheidende 15. Kammer in zwei Praktiken der polnischen Behörden, die auf neueren Gesetzen und deren Anwendung basierten. Dabei geht es vor allem um Dublin-Rückkehrer und um Geflüchtete, die über Belarus nach Polen gelangen. Ihre Einschätzung stützt die Kammer auf Berichte der EU-Kommission und verschiedener NGOs.
Zum einen verweigere Polen Dublin-Rückkehrern die Wiederaufnahme ihres bereits initiierten Asylverfahrens und verweise sie stattdessen darauf, einen neuen Asylantrag (Asylfolgeantrag) zu stellen, der regelmäßig keine Erfolgsaussicht habe. Zum anderen verweigere Polen seit Mitte September die Annahme von Asylanträgen von Asylsuchenden, die über Belarus eingereist sind. "Dublin-Rückkehrer haben aufgrund dieser konfligierenden Regelungen, jedenfalls bei einer vorherigen Einreise über Belarus, keinen Zugang mehr zum polnischen Asylverfahren", so das Resümee des Gerichts.
Überstellungsversuch 30 Minuten zu spät?
Dass Polen seine Bereitschaft zur Rücknahme erklärt hat, ändert nach Auffassung der Hannoveraner Richterin nichts an dem Bestehen dieser Schwachstellen. Denn die Zusage erfolgte, bevor die polnische Regierung ihre Praxis derart verschärft hat. Zudem habe das polnische "Rule of Law Institute" in einem neueren Bericht festgestellt, dass Zusicherungen der polnischen Regierung in Rückführungsverfahren nicht vertrauenswürdig sind.
Hilfsweise bzw. "selbstständig tragend" weist das Gericht noch darauf hin, dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren außerdem nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung auf Deutschland übergegangen sei: wegen Ablaufs der Überstellungsfrist von sechs Monaten. Zwar hatte innerhalb der Frist ein Überstellungsversuch stattgefunden. Dieser war aber gescheitert, weil die Beamten den Mann nicht in seinem Zimmer vorgefunden hatten. Das BAMF hatte deshalb vorgetragen, dass der Betroffene flüchtig sei, weil er sich seiner Überstellung absichtlich entzogen habe. Eine Flucht berechtigt dazu, die Überstellungsfrist auf 18 Monate zu verlängern.
Dass der Sudanese flüchtig ist, habe das BAMF jedoch nicht hinreichend dargelegt, fand das Gericht. Dass er sich beim gescheiterten Überstellungsversuch um 6:30 Uhr nicht in seinem Zimmer befunden habe, genüge nicht, um anzunehmen, dass er sich der Maßnahmen absichtlich entzogen habe. Zwar gab es in seiner Geflüchtetenunterkunft eine Regelung, wonach sich die Bewohner zur Nachtzeit nicht andernorts aufhalten dürfen. Jedoch galt diese nur zwischen Mitternacht und 6 Uhr.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.