15.08.2025 Aus der Interviewreihe 10 Jahre Sommer der Solidarität Stimmen des Ankommens von Pro Asyl:
Vier Jahre ist es her, dass die Taliban die Macht in Kabul zurückgewannen. Dr. Alema musste aus dem Land fliehen und arbeitet seither aus dem Exil zu Afghanistan. Jetzt erzählt sie uns über die Situation im Land – insbesondere für Frauen und Mädchen.
Hallo Alema. Du hast Afghanistan vor mittlerweile vier Jahren direkt nach der Machtübernahme der Taliban verlassen. Was kannst du uns zur Situation dort aktuell sagen?
Die Entwicklung Afghanistans wurde durch die Taliban-Regierung um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die aktuelle Lage in Afghanistan ist als katastrophal zu bewerten. Dies betrifft verschiedene Bereiche des Landes. Humanitär, wirtschaftlich und politisch. Seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, gilt das afghanische Grundgesetz nicht mehr. Die »de-facto-Regierung« der Taliban arbeitet mit Dekreten, vor allem im Bereich der Frauenrechte – allein dazu gab es über 100 Dekrete. Und das sogenannte »Tugendgesetz« ist jetzt ratifiziert worden.
Was besagt dieses Gesetz?
Das »Tugendgesetz« gilt seit August 2024. Damit erhält die Sittenpolizei des zuständigen »Ministeriums für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern« mehr Macht. Sie darf das persönliche Verhalten der Bevölkerung über Verwarnungen bis hin zu Untersuchungshaft regulieren. Das Gesetzespaket betrifft vor allem Frauen, aber auch viele Aspekte des täglichen Lebens der ganzen Bevölkerung, wie öffentliche Gebets-Regeln, Männer-Kleidung, Bartlänge, Verkehrsmittel, Musik und das Feiern – auch Jungen und Männer werden zum Beispiel in bestimmten Bereichen, wie in der Schule, zum Tragen traditioneller Gewänder verpflichtet.
Wie die Schauspielerin Meryl Streep einmal gesagt hat: Selbst Katzen und Hunde haben ein besseres Leben in Afghanistan als Frauen.
Die Frauenrechte werden generell in vielen Bereichen eingeschränkt. Jetzt gilt sogar die Stimme der Frau als »intim«. Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen – Afghanistan ist das einzige Land auf diesem Planeten, in dem das so ist. Wie die Schauspielerin Meryl Streep einmal gesagt hat: Selbst Katzen und Hunde haben ein besseres Leben in Afghanistan als Frauen.
Seit dem 17. Juli 2025 werden auch massenhaft Frauen auf der Straße festgenommen, weil sie den islamischen Hijab angeblich nicht korrekt tragen. Die Familien müssen dann Lösegeld bezahlen. Frauen trauen sich nicht mehr, auf die Straße zu gehen, das Straßenbild von Kabul ist fast ohne Frauen.
Und die humanitäre Lage?
Die Situation ist besorgniserregend, auch weil viele Menschen nicht mehr an die Sicherheit des Landes glauben. Internationale Organisationen berichten, dass rund die Hälfte der Bevölkerung, 22,9 Millionen Menschen, auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Kinder kriegen teils nicht mal einmal am Tag warmes Essen, es gibt Unterernährung.
Durch Kürzungen der US-Hilfsprojekte für Afghanistan wurden Programme zur Ernährungssicherheit eingestellt. Das hat vor allem Frauen und Mädchen getroffen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass bis Juli 2025 mehr als 400 Gesundheitseinrichtungen schließen mussten.
Trotz aller Menschenrechtsverletzungen gibt es aber auch immer mehr politische Zusammenarbeit von anderen Staaten mit den Taliban?
Russland ist das einzige Land, das die Taliban anerkannt hat, aber einige Nachbarländer unterhalten auch gute Beziehungen. Und es gibt eben mittlerweile verschiedene Bemühungen anderer Staaten, die Beziehungen zu »normalisieren«.
Auch Deutschland gehört zu diesen Ländern und hat kürzlich wieder nach Afghanistan abgeschoben.
Ja, sie nennen es eine »technische Zusammenarbeit«, aber wenn Taliban-Vertreter hier Visa bekommen, ist das keine »technische Zusammenarbeit« mehr. Deutschland hat ein großes Interesse an diesen Prozessen, weil sie Menschen dorthin abschieben wollen. Und andere Länder nehmen Deutschland als Vorbild – nach der ersten Abschiebung von hier, haben auch sechs andere Staaten sich aufs »deutsche Modell« berufen und möchten abschieben. Deutschland agiert an dieser Stelle total paradox: Einerseits wird Afghanistan auch von Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen der Gender-Apartheid verklagt – andererseits werden Kontakte intensiviert und Beziehungen normalisiert. Das passt nicht zusammen.
Deutschland hat seine großen Worte, die »Verbündeten nicht im Stich zu lassen« offenbar vergessen.
Was bedeutet dieser Vorgang für Menschenrechtsverteidiger*innen wie dich, die vor den Taliban fliehen mussten?
Vor allem die Menschen, die nach 2021 nach Deutschland gekommen sind – oft über §22 Aufenthaltsgesetz – haben Angst. Sie sind besonders gefährdet, sie müssen ihre Pässe bei der afghanischen Botschaft oder Konsulaten verlängern. In den Taliban-Botschaften werden ihre Daten aufgenommen und ans afghanische Außenministerium übermittelt, das kann Familienmitglieder gefährden, gerade da sich viele der Menschen im Exil öffentlich an Protestaktionen gegen die Taliban beteiligt haben. Und die deutschen Behörden akzeptieren beispielsweise keine Verlängerungen mehr aus dem Konsulat in Bonn, sondern nur aus München und Berlin, wo das Personal mit den Taliban zusammenarbeitet. Deutschland hat den Menschen also hier Schutz vor den Taliban geboten – aber zwingt sie, zu Taliban-Konsulaten zu gehen. Das ist absurd. Und es verbreitet sich eben Angst, viele Afghan*innen trauen sich nicht zu den Konsulaten.
Wir bekommen immer mehr Anfragen von Menschen, die aus Afghanistan – oft schon vor Jahrzehnten – in den Iran oder nach Pakistan geflüchtet sind und denen dort jetzt die Abschiebung droht. Hat sich das akut verschlimmert?
Seit Anfang des Jahres sind über 2 Millionen Menschen aus Pakistan oder dem Iran abgeschoben worden. Auch Personen, die beim UNHCR registriert waren und einen Schutzstatus hatten. Viele waren noch nie in Afghanistan, sondern wurden in den Nachbarländern geboren, nicht nur Kinder, auch Erwachsene. Täglich gibt es Tausende Abschiebungen.
Woher kommt das, gab es da Verhandlungen? Und was passiert mit den Rückkehrern?
Offiziell gab es keine Verhandlungen, aber vermutlich geheime Vereinbarungen. Die Beziehungen zwischen den Ländern sind gut. Insgesamt soll das bis Ende des Jahres bis zu 4,5 Millionen Menschen betreffen, Pakistan hat gerade eine »zweite Welle« angekündigt. Das verschlimmert die humanitäre Katastrophe in Afghanistan natürlich noch, es gibt ohnehin schon 3 Millionen Binnenvertriebene in Afghanistan.
An der Grenze werden die Daten erfasst und auch mit Bildern abgeglichen und dort Leute festgenommen. Laut einem UN-Bericht foltern und bedrohen die Taliban Afghanen, die aus dem Iran oder Pakistan zwangsweise zurückgeführt wurden, aufgrund ihrer Identität oder persönlichen Geschichte.
Es sitzen auch immer noch Leute in diesen Nachbarländern fest, die im Aufnahmeprozess in Deutschland waren, der jetzt gestoppt wurde. Weißt du etwas zu deren Lage, bist du in Kontakt mit solchen Personen?
Ja, es gibt Whatsapp-Gruppen, in denen wir in Kontakt mit einigen stehen. Die Leute waren in verschiedenen Programmen in Deutschland, sind teilweise mit deutscher Unterstützung nach Pakistan gebracht worden und haben schon Aufnahmezusagen. Die Visa für Pakistan sind mittlerweile aber abgelaufen, es gab eine Frist bis zur Evakuierung von der pakistanischen Regierung, bis zum 30. Juni 2025. Es gab auch schon Abschiebeversuche, die Pässe der Menschen liegen ja aber oftmals noch bei der deutschen Botschaft in Islamabad, die dann eingreifen muss. Insgesamt betrifft das 2.400 Menschen, die nicht wissen, was jetzt passiert und die seit Jahren dort festsitzen. Bei einigen werden die Aufnahmezusagen sogar zurückgezogen. Deutschland hat seine großen Worte, die »Verbündeten nicht im Stich zu lassen« offenbar vergessen. Die afghanischen Diaspora-Gruppen machen verschiedene Aktionen, damit die Versprechen gehalten werden. Es gibt aber keine richtigen Reaktionen aus der Politik.
Mit einer terroristischen Gruppe, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, arbeitet man nicht zusammen.
Habt ihr einen generellen Appell an die handelnden Politiker*innen und die internationale Gemeinschaft?
Mit einer terroristischen Gruppe, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, arbeitet man nicht zusammen. Es gibt Haftbefehle gegen zwei hochrangige Taliban vom Internationalen Strafgerichtshof. Deutschland hat gesagt, dass es erst eine Anerkennung der Regierung gibt, wenn in Afghanistan die Menschenrechte gelten. Und jetzt gibt man den Taliban die Hand, obwohl die Lage sich nicht verbessert, sondern immer weiter verschlechtert.
Zum Abschluss: Du hast nach deiner Ankunft in Deutschland bei PRO ASYL als Afghanistan-Referentin gearbeitet – und auch jetzt beschäftigst du dich auch beruflich weiter mit der Situation dort, im Rahmen eines Forschungsprojektes. Stell uns das doch gerne mal vor.
Das Thema ist »Transformation und Schutz – Zukunftsmodelle für Afghanistan«. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und befasst sich mit zwei zentralen Fragestellungen: Welche Szenarien für dauerhaften Frieden und die Achtung der Menschenrechte gibt es für Afghanistan. Dazu gehen wir auch in den Dialog mit der afghanischen Diaspora und verschiedenen Organisationen und Parteien. Und bis dieser Zustand erreicht ist, benötigen viele Afghan*innen natürlich weiterhin Schutz, daher untersuchen wir, wie bisherige Schutzmodelle und ihre Umsetzung seitens der deutschen Regierungen seit 2014 effektiv funktioniert haben – und wie es besser laufen könnte.
Auf die Ergebnisse sind wir sehr gespannt. Vielen Dank für deine Zeit, Alema!
Dr. Alema Alema hat in Deutschland promoviert, 2002 ging sie zurück nach Afghanistan. Dort war sie zuletzt im Friedensministerium tätig. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban wurde sie evakuiert und war anschließend Afghanistan-Referentin bei PRO ASYL. Aktuell forscht sie in einem von der Stiftung PRO ASYL geförderten Projekt zu Afghanistan an der Frankfurt University of Applied Sciences.