"Schwarzbuch Pushbacks"

14.01.2021 Eine 1500-Seiten starke Dokumentation von Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen wurde von der Organisation Border Violence Monitoring Network (BVMN) im Dezember 2020 herausgebracht und von der Linksfraktion des Europäischen Parlamentes (GUE/NGL) in Brüssel vorgestellt. Die Fraktion schreibt dazu: "Das neu veröffentlichte „Black Book of Pushbacks“ dokumentiert brutale, gewalttätige Pushbacks. Die detaillierten Zeugnisse unterstreichen die Forderung eines Endes der Straflosigkeit für Gewalt an den Grenzen der EU.
Das 1500-seitige „Schwarzbuch“ (Band 1 und Band 2), das die schreckliche Gewalt dokumentiert, unter der mehr als 12.000 Menschen durch Behörden an den Außengrenzen der EU litten, bzw. leiden, wurde heute, am Internationalen Tag der Migranten, von der Linken im Europa-Parlament veröffentlicht." Quelle: https://griechenlandsoli.com/2020/12/18/1500-seiten-belege-fur-pushbacks-in-europa/

Ulrike Wagener von nd sprach mit Hope Barkner vom BVMN und Cornelia Ernst von der Linksfraktion über das Recht auf Asyl, über Pushbacks an den EU-Außengrenzen und Handlungsspielräume. Das Schwarzbuch ist online in englischer Sprache kostenlos verfügbar: dasND.de/pushback. Das Interview erschien am 12.01.2021:

Die Drecksarbeit wird delegiert

Ein »Schwarzbuch Pushbacks« dokumentiert auf 1500 Seiten Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen

(Die Politikwissenschaftlerin Hope Barker arbeitet seit 2019 als Strategieberaterin für das Border Violence Monitoring Network (dt. Netzwerk zur Überwachung von Grenzgewalt, BVMN). Der Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen und Vereinen beobachtet seit 2016 Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der Europäischen Union und setzt sich dafür ein, die Gewalt gegen Geflüchtete und Migrant*innen zu beenden. Barker lebt in Griechenland und unterstützt die Menschen vor Ort. Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen hat sie das »Schwarzbuch Pushbacks« herausgegeben. Die gelernte Diplompädagogin Cornelia Ernst ist sitzt seit 2009 für die Linke im Europaparlament. Sie ist Sprecherin ihrer Fraktion für Innen-, Netz- und Energiepolitik und engagiert sich zudem seit langem für die Rechte von Asylsuchenden und Migranten. Die linke Fraktion im EU-Parlament, GUE/NGL, hat das Schwarzbuch in Auftrag gegeben und finanziert.)

Nach Moria und Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos gibt es ein neues Elendslager in Europa: Lipa in Bosnien-Herzegovina. Kommt das überraschend?

Hope Barker: Nein. Mitglieder des Border Violence Monitoring Network (etwa: Netzwerk zur Überwachung von Grenzgewalt, BVMN) prangern schon lange die unmenschlichen Bedingungen in Lipa an. Was wir jetzt sehen, ist eine direkte Folge davon - und des Hotspot-Ansatzes im allgemeinen.

ie haben in einem Schwarzbuch auf 1500 Seiten sogenannte Pushbacks dokumentiert, also Fälle, in denen Schutzsuchende in Nicht-EU-Länder »rückgeführt« wurden. Wie kam es dazu?

Cornelia Ernst: Seit 2016 beobachten und dokumentieren wir als Linksfraktion im Europaparlament Pushbacks an verschiedenen Orten in Europa. Im Dezember 2019 konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie Menschen in der Nähe von Lipa gewaltsam über die Grenze zurück nach Bosnien gebracht wurden. Diese Gewalt gegen Flüchtlinge ist strukturell und Teil der EU-Politik. Wir haben daher entschieden, dass wir eine Zusammenfassung dieser Fälle brauchen, wobei die Menschen selbst erzählen, was sie an den europäischen Außengrenzen erlebt haben.

Was zum Beispiel?

Barker: Besonders schockierend ist, was im Moment an der türkisch-griechischen Grenze am Fluss Evros passiert. In der letzten Zeit kommt es immer häufiger vor, dass Menschen auf kleinen aufblasbaren Rettungsinseln in der Mitte des Flusses ausgesetzt werden. Zuletzt wurde eine Gruppe von 50 Menschen, darunter schwangere Frauen und Kinder, für fünf Tage ohne Wasser, Essen, ohne jegliche Hilfe auf einer solchen Insel gelassen. Die Gruppen werden von Grenzbeamten und Militär auf beiden Seiten daran gehindert, an Land zu gehen. Es gibt Berichte, dass Beamte ins Wasser geschossen haben, wenn Menschen versucht haben, die Grenze zu überqueren.

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Also denken Sie, dass die Gewalt outgesourct wird?

 

Barker: Ja, auf jeden Fall! Am Evros beobachten wir fast ausschließlich, dass die Beamten People on the Move dazu bringen, die Boote über die Grenze zurück auf die türkische Seite zu fahren. Also kann Griechenland sagen: »Wir machen keine Pushbacks.« Ohne - auf semantischer Ebene - zu lügen.

Seit fünf Jahren ist das Recht auf Asyl in Europa faktisch ausgesetzt. Sie sprechen von Menschen, die von Grenzbeamten geschlagen, mit Waffen bedroht und gezwungen werden, sich zu entkleiden. Warum haben diese Rechtsverletzungen keine Konsequenzen?

Ernst: Für die europäischen Regierungen ist das eine gute Möglichkeit, den »Migrantenstrom« zu reduzieren. Auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) verkauft den Fakt, dass weniger Migranten nach Deutschland kommen, als Erfolg seiner Asylpolitik. Das ist zwar sehr zynisch, aber so argumentieren sie. Gleichzeitig will keiner der EU-Mitgliedsstaaten Flüchtlinge aufnehmen.

Barker: Der neue Migrationspakt sieht vor, dass Mitgliedsstaaten sich entscheiden können, ob sie Menschen aufnehmen, oder für ihre Abschiebung bezahlen. Ich denke, die meisten werden sich für letzteres entscheiden. Und es gibt keinen Plan dafür, was dann passieren soll.

Ernst: Und für all ihr Tun bekommen die Mitgliedsstaaten zusätzliche Gelder von der EU für die Grenzüberwachung. Damit bezahlen sie die Verpflegung, die Gehälter und den Treibstoff für die Beamten, die Menschen an der Grenze verprügeln.

Warum folgen aus diesen Menschenrechtsverletzungen keine Sanktionen?

Ernst: Für Sanktionen braucht man die Unterstützung aller Mitgliedsstaaten. Und die gibt es nicht.

Barker: Die EU ist eine überstaatliche Organisation, die sich nur selbst sanktionieren kann. Es gibt keine höhergestellte Institution. Die UNO hat keine politische Handhabe, wenn ihrem Mandat nicht gefolgt wird. Und Verhandlungen vor dem Europäischen Gerichtshof dauern oft Monate oder Jahre.

Ernst: Als linke Fraktion des EU-Parlaments haben wir einen Untersuchungsausschuss beantragt, um die Situation an der Grenze zu untersuchen. Im Januar wird sich entscheiden, ob er zustande kommt. Zudem fordern wir die Absetzung von Fabrice Legerri als Direktor von Frontex, weil seine Organisation in diese Pushbacks verwickelt ist.

Haben Politiker*innen schon auf das Buch reagiert?

Ernst: Ich denke es ist wichtig, es in allen Mitgliedsstaaten zu zeigen. Ulla Jelpke, die Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag für Migration und Asyl, hat das Buch bereits an das Bundesinnenministerium übergeben.

Und was hat Horst Seehofer gesagt?

Ernst: Wir werden ihn nochmal darauf ansprechen. Sie können ihn auch fragen! (lacht)

Barker: Als BVMN 2016 begann, diese Zeugenaussagen zu dokumentieren, hat niemand über Pushbacks gesprochen. Doch jetzt führen wir die Debatte darüber. Das Buch belegt, dass Pushbacks stattfinden. Das lässt sich nicht länger ignorieren.

Was muss aus Ihrer Sicht aus dem folgen, was im Schwarzuch dokumentiert ist?

Ernst: Was wir brauchen, sind starke Stimmen auf europäischer Ebene, die klarmachen, dass es so nicht weitergehen kann - innerhalb des Parlaments, aber auch außerhalb: von NGOs und anderen Aktivisten und aus den Städten.

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