Ukraine: Auch Solidarität und Schutz für Menschen, die Kriegsdienst verweigern und desertieren

24.03.2022 Auf aktuelle Entwicklungen angesichts des Kriegsgeschehens geht Pro Asyl ein und fordert:

Schutz und Asyl bei Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Zeiten des Ukraine-Krieges

In Russland und Belarus entziehen sich Menschen dem Einsatz im völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Auch in der Ukraine gibt es Kriegsdienstverweigerer. Trotz internationaler Beschlüsse zur Kriegsdienstverweigerung und trotz Regelungen zur Verweigerung völkerrechtswidriger Kriege im EU-Recht, fallen deutsche Asylentscheidungen anders aus.

Immer mehr Menschen in Russland und Belarus wollen sich am völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine nicht beteiligen. Und auch in der Ukraine gibt es Kriegsdienstverweigerer. Aufgrund eindeutiger Regelungen zur Verweigerung völkerrechtswidriger Kriege im EU-Recht und internationaler Urteile und Regelungen, die ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkennen, müssen diese Personengruppen Asyl erhalten.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist ein Angriffskrieg von Russland, den die UN-Generalversammlung am 2. März 2022 verurteilte. Der Einsatz des ukrainischen Militärs ist damit zugleich völkerrechtlich legitimiert.

Für alle Seiten gilt, dass das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 festgestellt hat, Gültigkeit haben muss!

Soldaten und Soldatinnen, die sich auf der Seite Russlands oder Belarus an diesem Krieg beteiligen, sind Teil eines völkerrechtswidrigen Einsatzes. Wenn sie sich dem Dienst entziehen, verweigern oder desertieren, müssen sie mit Strafverfolgung rechnen. Das kann einen Schutz nach der EU-Qualifikationsrichtlinie begründen.

Aber auch in der Ukraine gibt es Kriegsdienstverweigerer, die sich aus unterschiedlichen Motiven heraus nicht an den Kämpfen beteiligen wollen. Und für alle Seiten gilt, dass das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 festgestellt hat, Gültigkeit haben muss.

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NEWS (2015)

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PRO ASYL – Preis an André Shepherd

André Shepherd entzog sich seinem Dienst in der US-Armee, um nicht nochmals im Irak-Krieg eingesetzt zu werden und stellte 2008 einen Asylantrag in Deutschland

Derzeit erhalten alle ukrainischen Staatsbürger, die bis zum 24. Februar 2022 in der Ukraine gemeldet waren, einen humanitären Aufenthalt in der Europäischen Union. Das ist erfreulich. Bezüglich der Kriegsdienstverweigerer ist jedoch zu bedenken, dass mit Auslaufen dieser Regelung die Frage relevant sein wird, ob und wie Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine verfolgt werden.

Obergerichtliche Entscheidungen

In den vergangenen 15 Jahren gab es zu Asylgewährung bei Kriegsdienstverweigerung oder Desertion einige bemerkenswerte Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes.

Die aktuelle Situation in Russland und Implikationen für Asylverfahren

Der im Februar 2022 gestartete Angriffskrieg durch Russland ist die wesentliche Ursache von Tod, Zerstörung und menschlichem Leid und nicht zu rechtfertigen. Wie der UN-Menschenrechtsausschuss 2018 feststellte, stellt jede Tötung im Rahmen eines Angriffskrieges eine Verletzung des Rechts auf Leben dar (Ziffer 70). Der schwerwiegende Verstoß gegen die UN-Charta durch das Vorgehen Russlands in der Ukraine hat somit den Charakter, der einen Flüchtlingsschutz nach der Qualifikationsrichtlinie begründet. Es ist dabei unerheblich, wer genau die strafrechtliche Verantwortung für den Beginn des Krieges trägt. Und das bedeutet, dass bei denjenigen, die sich diesem Unrecht entziehen und Verfolgung befürchten müssen, der Schutzstatus ausgelöst wird.

Dabei müssen aber einige Einschränkungen bedacht werden, die sich vermutlich erst in der Praxis der Rechtsprechung zeigen werden.

So haben sich nicht wenige Personen aus Russland und Belarus schon vor dem Kriegsbeginn – und im Falle von Belarus vor dem Eintritt des Landes in den Krieg – der Rekrutierung entzogen oder sind desertiert. Sie haben kommen sehen, was passieren könnte, und rechtzeitig ihre Konsequenz gezogen. In den Asylverfahren werden sie allerdings kaum den Beweis führen können, dass sie ganz konkret in der Ukraine im Krieg eingesetzt worden wären, weil sie weder einen Nachweis über die Rekrutierung noch über ein Einsatzgebiet vorlegen können.

So haben sich nicht wenige Personen aus Russland und Belarus schon vor dem Kriegsbeginn der Rekrutierung entzogen oder sind desertiert. Für sie wird es aber schwer, nachzuweisen, dass sie in der Ukraine eingesetzt worden wären.

Deutsche Behörden und Gerichte könnten auch auf die Idee kommen, dass es selbst bei einer angenommenen Rekrutierung zum Militär nicht wirklich wahrscheinlich sei, dass die betreffende Person wirklich im Kriegsgebiet eingesetzt wird. Das würde sogar diejenigen treffen, die eine Einberufung vorlegen könnten.

Unklar ist auch, wie deutsche Behörden beurteilen werden, dass es in Russland und Belarus nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten gibt, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen. Obwohl in Russland und Belarus für Reservisten die Antragstellung ausgeschlossen ist – und in Belarus auch nur religiöse Verweigerer anerkannt werden – müsste nach der Rechtsprechung des EuGH dennoch der Versuch gemacht worden sein, einen Antrag zu stellen. Allerdings kann dies angesichts einer innerhalb von wenigen Tagen eskalierenden Situation, die zum Kriegseintritt führte, nicht wirklich erwartet werden.

Konsequenz aber wäre, dass die Militärpflichtige oder Militärangehörige, die keinen eindeutigen Nachweis ihres Einsatzes in der Ukraine vorlegen können oder nicht nachweisen können, den Versuch der Anerkennung für eine Kriegsdienstverweigerung gemacht zu haben, in den Asylverfahren abgelehnt würden.

Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung

Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kriegsdienstverweigerung als Ausfluss der Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit definiert hat, spiegelt sich dies nach wie vor nicht im Flüchtlingsrecht wider. Artikel 9 der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union schließt einen grundsätzlichen Schutz für Kriegsdienstverweigerer faktisch aus und bezieht einen möglichen Schutzstatus allein auf die Verweigerung völkerrechtswidriger Handlungen oder völkerrechtswidriger Kriege.

Bei einem Asylantrag wird allerdings zusätzlich geprüft, ob eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt. In Deutschland ist dann nach Paragraf § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ein Abschiebehindernis auszusprechen, der schlechtest mögliche Status. Dort steht: »Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.«

Situative Kriegsdienstverweigerung

Nicht alle Kriegsdienstverweigerer und ‑verweigerinnen treffen eine absolute Entscheidung gegen jeden Kriegseinsatz. Häufig treffen sie diese, gerade in einem Kriegs- oder Spannungsfall, aufgrund einer besonderen persönlichen oder gesellschaftlichen Situation. Aber auch in solch einer situativen Entscheidung spiegelt sich die Überzeugung wider, nicht an militärischen Einsätzen beteiligt sein zu wollen und die damit verbundene Waffengewalt abzulehnen. Der UNHCR weist in seinen Richtlinien darauf hin, dass eine Kriegsdienstverweigerung auch dann vorliegt, wenn Personen der Überzeugung sind, dass »die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen berechtigt ist, in anderen jedoch nicht, und dass sie daher den Dienst in diesen anderen Fällen verweigern müssen«.

Auch die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofes, Eleanor Sharpston, machte in einer Stellungnahme vom 11. November 2014 deutlich, der Begriff Kriegsdienstverweigerung »kann sich aber auch auf Personen beziehen, die aus juristischen, moralischen oder politischen Gründen einen konkreteren Konflikt oder die Mittel und Methoden zur Austragung dieses Konflikts ablehnen«. Diese Argumentation spiegelt sich aber bislang nicht in den deutschen Asylverfahren wider.

Menschen, die vor dem Kriegsdienst fliehen, müssen Schutz erhalten!

Glaubwürdigkeit einer Kriegsdienstverweigerung

Behörden und Gerichte gehen bei einer Kriegsdienstverweigerung von sehr hohen Maßstäben aus. In Deutschland beispielsweise orientieren sich die Gerichte an der Rechtsprechung, die sich über die vergangenen Jahrzehnte zu den Verfahren zu deutschen Kriegsdienstverweigerern entwickelt hat – und lehnen eine situative Entscheidung ab. Im Falle eines kurdischen Verweigerers stellte zum Beispiel das Verwaltungsgericht Saarland fest: »Eine solche Gewissensentscheidung setzt eine sittliche Entscheidung voraus, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen.«

Da der Antragsteller seine Verweigerung nicht in der vom Gericht geforderten Weise dargelegt hatte, wurde sein Asylbegehren abgelehnt. Es ist unbedingt zu empfehlen, dass die Kriegsdienstverweigerer mit Beratungsstellen in Kontakt treten, um sich auf Anhörungen vorzubereiten.

Aktuelle politische Forderungen: Asyl für Kriegsdienstverweigerer!

Somit wird deutlich, dass Militärdienstpflichtige oder Militärangehörige, die Verfolgung befürchten müssen, weil sie das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung wahrnehmen wollen oder sich einem Angriffskrieg entziehen, in Deutschland nicht ausreichend geschützt werden. Deshalb fordern PRO ASYL und Connection e.V., sowohl russischen und belarussischen als auch ukrainischen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren Schutz und Asyl zu gewähren. Deutschland und alle anderen EU-Länder müssen diese Menschen, die vor dem Kriegseinsatz fliehen, unbürokratisch aufnehmen und ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglichen.

Rudi Friedrich, Connection e.V.