Unanfechtbarer Gerichtsbeschluss: Zurückweisungen bei Grenzkontrollen sind rechtswidrig - Doch Dobrindt und Merz wollen weiter zurückweisen lassen

02.06.2025 Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin sorgt heute für Aufsehen, macht sie doch Dobrindts forscher Symbolpolitik einen Strich durch die Rechung. Der Beschluss sei unanfechtbar, heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts.

Die Zurückweisung der Antragsteller sei rechtswidrig. Die Bundesrepublik sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das in dieser Verordnung vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats vollständig durchzuführen (so genanntes „Dublin-Verfahren“). (Pressemitteilung des VG) ...

... Wer aus Polen nach Deutschland einreist, hat also keinen Anspruch auf ein vollständiges Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wohl aber darauf, dass das BAMF prüft, welcher Staat zuständig ist, erklärt dazu LTO - Legal Tribune Online s. u.

Stunden später kommt die Meldung des BR mit der Überschrift: Dobrindt hält nach Gerichts-Schlappe an Zurückweisungen fest:

Innenminister Dobrindt spricht von einem Einzelfallbeschluss – und will an der umstrittenen Praxis festhalten...

Innenminister Alexander Dobrindt erklärte jedoch am Abend, Asylbewerber sollten auch künftig von der Bundespolizei an den Grenzen abgewiesen werden. Die Eil-Entscheidung des Verwaltungsgerichts gegen die Praxis sei ein "Einzelfallbeschluss", sagte der CSU-Politiker in Berlin. Zudem wolle man eine Entscheidung im Hauptverfahren. "Wir halten im Übrigen an den Zurückweisungen fest."...  

und:  "Es gibt keinen Grund, aufgrund einer Gerichtsentscheidung, die heute hier erfolgt ist, in diesem Einzelfall unsere Praxis zu verändern." (zitiert aus ARD-Kommentar)

Ein gruseliges Rechtsverständnis ist der Kommentar dazu aus dem ARD-Hauptstadtstudio überschrieben (03.06.2025)

Zurückweisungen von Asylbewerbern an deutschen Grenzen kann man gut, falsch, effektiv oder unsinnig finden. Aber hier geht es um den Stil, um das Wie. Ein Bundesinnenminister, der mit Ansage geltendes Recht bricht und der dann, als ein Gericht sein Vorgehen erwartungsgemäß stoppt, sagt: Egal, weiter so - so ein Innenminister bereitet Sorgen. Weil er das Recht, die Ordnung schleift.

... Eine Bundesregierung, ein Innenminister, von dem nach einer Gerichtsentscheidung kein selbstkritisches Wort zu hören ist - das ist besorgniserregend. Und gruselig. Und bei einem Seitenblick in Richtung USA stellt sich die Frage: Wollen wir dahin?

Dobrindt bleibt nicht allein mit seinem "weiter so". Auch Merz will weitermachen:

Die Entscheidung des Berliner Gerichts enge die Spielräume zwar möglicherweise noch einmal etwas ein, sagte der CDU-Chef. "Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können."  (zitiert aus Zeit Online)

Im Folgenden Reaktionen und Bewertungen in vollständigem Text:

 

Dobrindts Zurückweisungspolitik ist rechtswidrig – drei Geflüchtete gewinnen Eilverfahren gegen Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze

02.06.2025 Eine 16-jährige Geflüchtete aus Somalia hat vor dem Verwaltungsgericht Berlin ein Eilverfahren gegen ihre Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze gewonnen. Das Gericht stellte klar: Die Zurückweisung der schwer verletzten Jugendlichen war rechtswidrig. Ebenso haben zwei weitere somalische Schutzsuchende, die einer verfolgten Minderheit angehören, ihre Eilverfahren gegen ihre Zurückweisung vor dem Verwaltungsgericht gewonnen. Alle drei Verfahren werden aus dem Rechtshilfefonds von PRO ASYL unterstützt.

„PRO ASYL ist erleichtert, dass das Gericht den Betroffenen zu ihrem Recht verholfen hat. Die europarechtswidrige Praxis, Asylsuchende zurückzuweisen, muss sofort beendet werden. Bundesinnenminister Dobrindt hat mit seinem nationalen Alleingang genug Leid für Schutzsuchende verursacht und außenpolitischen Schaden angerichtet“, erklärt Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Ein Team von PRO ASYL war unmittelbar nach der Anweisung von Bundesinnenminister Dobrindt an die Grenze gereist. Vor Ort trafen sie auf mehrfach zurückgewiesene Schutzsuchende – unter ihnen die 16-Jährige, die sich aufgrund ihrer Verletzungen kaum noch fortbewegen konnte. Dreimal wurde sie trotz ihrer Minderjährigkeit und ihres kritischen Gesundheitszustands von deutschen Grenzbeamt*innen abgewiesen. Gemeinsam mit polnischen Partnerorganisationen sorgte PRO ASYL für ihre medizinische Versorgung, Unterbringung und rechtliche Vertretung in Polen und Deutschland.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun bestätigt: Die Zurückweisungen der jungen Frau sowie der zwei somalischen Männer verstoßen gegen deutsches und europäisches Recht.

Die Versuche von Alexander Dobrindt, durch populistische Rhetorik ein Klima der Härte zu schaffen, gehen nicht nur zulasten schutzbedürftiger Menschen – sie stehen auch im Widerspruch zum geltenden Recht. Wer Geflüchtete trotz offensichtlicher Hilfsbedürftigkeit zurückweist, handelt nicht nur unethisch, sondern rechtswidrig. Zudem gefährdet dieser nationale Alleingang die europäische Einheit.

Die 16-Jährige war im Mai 2025 gemeinsam mit zwei weiteren somalischen Geflüchteten nach wochenlanger Flucht in kritischem Zustand an der Grenzbrücke bei Frankfurt (Oder) angekommen – geschwächt, verletzt und medizinisch unterversorgt. Trotz ihres Zustands wurde sie ohne Prüfung ihres Schutzgesuchs nach Polen zurückgeschoben. Erst durch zivilgesellschaftliche Unterstützung sowie die Intervention einer Anwältin konnte die Zurückweisung erfolgreich angefochten werden.

PRO ASYL fordert ein sofortiges Ende rechtswidriger Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Zudem braucht es eine umfassende politische Aufarbeitung dieses Falles und ähnlicher Fälle, um systematische Rechtsverstöße und unterlassene Hilfeleistungen künftig zu verhindern.

 

Im Folgenden weitere Texte im Wortlaut:

Das Berliner Verwaltungsgericht hat im Eilverfahren festgestellt: Die Zurückweisung von Asylbewerbern an den Grenzen ist rechtswidrig. Wie Innenminister Dobrindt nun damit umgeht, ist besorgniserregend.

Ein Kommentar von Bianca Schwarz, ARD-Hauptstadtstudio

Zurückweisungen von Asylbewerbern an deutschen Grenzen kann man gut, falsch, effektiv oder unsinnig finden. Aber hier geht es um den Stil, um das Wie. Ein Bundesinnenminister, der mit Ansage geltendes Recht bricht und der dann, als ein Gericht sein Vorgehen erwartungsgemäß stoppt, sagt: Egal, weiter so - so ein Innenminister bereitet Sorgen. Weil er das Recht, die Ordnung schleift.

Alexander Dobrindt hat - wie im Wahlkampf versprochen - an seinem ersten Tag im neuen Amt angewiesen, Asylbewerber an den Grenzen zurückzuweisen. Was er nicht getan hat: Er hat nicht auf die Expertise seiner neuen Mitarbeitenden im Innenministerium gehört - denn die Vorgängerregierung hat die Zurückweisungen ausführlich juristisch prüfen lassen und sich dann, offenbar aus guten Gründen, dagegen entschieden.

Dobrindt, der selbst kein Jurist ist, hat sich darüber einfach hinweggesetzt. Der Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts war für viele Juristen nun wirklich keine Überraschung. Auch Dobrindt muss damit gerechnet haben - und was macht er? Er tritt vor die Presse und sagt wörtlich: "Es gibt keinen Grund, aufgrund einer Gerichtsentscheidung, die heute hier erfolgt ist, in diesem Einzelfall unsere Praxis zu verändern."

Aber in einem Rechtsstaat sollte nicht das persönliche Rechtsverständnis eines Ministers oder seiner Partei entscheidend sein, sondern das geschriebene Gesetz und die Auslegung durch die unabhängige Justiz. Und wenn ein Innenminister - also der Mann, der auch die Polizei verantwortet - öffentlich erklärt, sich von Gerichtsentscheidungen nicht beeindrucken zu lassen, dann signalisiert er: Recht gilt nur, wie es mir passt.

Sowas sieht man in ganz Europa, in Ungarn, Polen, Italien und es ist eklatant. Vieles, gerade in der Migrationspolitik, widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, aber wird trotzdem gemacht. Der Kern eines Rechtsstaats ist aber: Man darf fast alles wollen, auch Änderungen am Europarecht, aber der Weg muss in der richtigen Reihenfolge gegangen werden. Wenn Dobrindt unbedingt Asylbewerber an den Grenzen zurückweisen will, dann muss er erst Wege finden, um am Europarecht zu schrauben. Und danach kann er zurückweisen.

Eine Bundesregierung, ein Innenminister, von dem nach einer Gerichtsentscheidung kein selbstkritisches Wort zu hören ist - das ist besorgniserregend. Und gruselig. Und bei einem Seitenblick in Richtung USA stellt sich die Frage: Wollen wir dahin?

 

Die Gerichtsentscheidung enge die Spielräume bei der Zurückweisung Asylsuchender ein, sagt Kanzler Merz. Die Bundesregierung will sie aber weiterhin vornehmen.

Bundeskanzler Friedrich Merz hält an der Zurückweisung Asylsuchender an der Grenze nach der Verwaltungsgerichtsentscheidung fest. Die Entscheidung des Berliner Gerichts enge die Spielräume zwar möglicherweise noch einmal etwas ein, sagte der CDU-Chef. "Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können." 

"Wir werden das selbstverständlich im Rahmen des bestehenden europäischen Rechts tun", sagte Merz. "Aber wir werden es tun, auch um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren." Dieser Aufgabe wolle sich die Bundesregierung unverändert stellen. Bis sich die Lage an den europäischen Außengrenzen mithilfe von neuen gemeinsamen europäischen Regeln deutlich verbessere, "werden wir die Kontrollen an den Binnengrenzen aufrechterhalten müssen".

Urteil des Verwaltungsgerichts

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte Anfang Mai eine Intensivierung der Grenzkontrollen verfügt. Er ordnete zudem an, auch Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen – allerdings mit Ausnahmen, etwa für Kinder und Schwangere. Vorherige Bundesregierungen hatten dies bislang mit Verweis auf das europäische Recht immer abgelehnt.

Das Verwaltungsgericht Berlin hatte am Montag in einer Eilentscheidung festgestellt, dass die Zurückweisung dreier Somalier bei einer Grenzkontrolle am Bahnhof Frankfurt (Oder) rechtswidrig gewesen sei. Ohne eine Klärung, welcher EU-Staat für einen Asylantrag der Betroffenen zuständig sei, dürften sie nicht abgewiesen werden. Die drei Betroffenen waren nach Polen zurückgeschickt worden.

 

Personen, die bei Grenzkontrollen auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußern, dürfen nicht ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Prüfung des Asylantrags zurückgewiesen werden. Das hat das Verwaltungsgericht in mehreren Eilverfahren entschieden.

Die drei somalischen Antragsteller, zwei Männer und eine Frau, gelangten mit dem Zug aus Polen kommend ins Bundesgebiet. Am 9. Mai 2025 wurden sie am Bahnhof Frankfurt (Oder) durch die Bundespolizei kontrolliert und nach Äußerung eines Asylgesuchs noch an demselben Tag nach Polen zurückgewiesen. Die Zurückweisung wurde seitens der Bundespolizei mit der Einreise aus einem sicheren Drittstaat begründet. Hiergegen wandten sich die Antragsteller, die sich derzeit in Polen aufhalten, mit Eilanträgen.

Die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts hat den Anträgen im Wesentlichen stattgegeben. Die Zurückweisung der Antragsteller sei rechtswidrig. Die Bundesrepublik sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das in dieser Verordnung vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats vollständig durchzuführen (so genanntes „Dublin-Verfahren“). Die Antragsteller hätten ein entsprechendes Asylgesuch geäußert, sodass ihnen der Grenzübertritt erlaubt und das Dublin-Verfahren in Deutschland durchgeführt werden müsse. Die Bundesrepublik könne sich nicht darauf berufen, dass die Dublin-Verordnung angesichts einer Notlage unangewendet bleiben dürfe. Insbesondere könne sie die Zurückweisungen nicht auf die Ausnahmeregelung des Art. 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) stützen. Es fehle dafür bereits an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch die Antragsgegnerin.
Die Antragsteller könnten allerdings nicht verlangen, über den Grenzübertritt hinaus in das Bundesgebiet einzureisen. Denn nach der Dublin-Verordnung sei es möglich, das Dublin-Verfahren an der Grenze oder im grenznahen Bereich durchzuführen, ohne dass damit zwangsläufig eine Einreisegestattung verbunden sein müsse.

Die Beschlüsse sind unanfechtbar.

 

Die umstrittene Wahlkampfforderung, alle Migranten an deutschen Grenzen zurückzuweisen, setzte die Union um. Nun bestätigt ein Gericht die Bedenken der Experten: Die Maßnahme verstößt gegen EU-Recht, eine Notlage ist nicht ersichtlich. 

Es war die wohl umstrittenste Wahlkampfforderung der CDU/CSU: Um die sogenannte irreguläre Migration einzudämmen, sollen Migranten an den deutschen Grenzen zurückgewiesen werden. Das sollte explizit auch Asylsuchende treffen, weil Deutschland für deren Asylanträge nach dem europäischen Dublin-System in aller Regel nicht zuständig sei. Obwohl viele Experten darin einen Verstoß gegen EU-Recht sahen, setzte die Union das Vorhaben gegen abweichende Stimmen aus den Reihen ihres Koalitionspartners SPD durch. 

Im Mai dann setzte der neue Bundesinnenminster Alexander Dobrindt (CSU) die Zurückweisungen per Erlass in Gang. Er begründete dies primär mit dem deutschen Recht, welches Zurückweisungen von Personen, die aus sicheren Drittstaaten nach Deutschland eingereist seien, in § 18 Asylgesetz vermeintlich erlaube. Am Montag nun bestätigte das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in drei Eilentscheidungen die Warnungen der Kritiker: Wer bei einer Grenzkontrolle auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußert, dürfe nicht ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens zurückgewiesen werden. Der darin liegende Verstoß gegen die europäischen Dublin-Regeln werde auch nicht durch eine Notlage gerechtfertigt (Beschl. v. 02.06.2025, Az. 6 L 191/25 u.a.).

Die 6. Kammer gab damit dem Antrag dreier von ProAsyl unterstützten Somalier:innen im Wesentlichen statt. Sie waren am 9. Mai mit dem Zug von Polen nach Deutschland eingereist. Am Bahnhof Frankfurt (Oder) gerieten sie in eine Kontrolle der Bundespolizei, äußerten ihr Asylgesuch – und wurden doch koalitionsvertragsgetreu unter Hinweis auf die Einreise aus einem sicheren Drittstaat nach Polen zurückgewiesen.

Dublin-Verfahren missachtet

Das VG Berlin stützt seine Entscheidung auf die Regeln der europäischen Dublin-III-Verordnung. Die sieht zwar einerseits vor, dass für das Asylverfahren derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem die geflüchtete Person zuerst die EU betreten hat – was aufgrund der geografischen Lage so gut wie nie Deutschland sein kann. Andererseits aber garantiert die Verordnung jedem, der ein Asylgesuch auf dem Gebiet oder "an der Grenze" eines Staates äußert, dass dieser Staat die Zuständigkeit prüft und feststellt. 

Wer aus Polen nach Deutschland einreist, hat also keinen Anspruch auf ein vollständiges Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wohl aber darauf, dass das BAMF prüft, welcher Staat zuständig ist. Hintergrund ist, dass die Zuständigkeitsfeststellung im Einzelfall kompliziert sein kann. Aufgrund von Ausnahmeregelungen in der Dublin-Verordnung, etwa wenn sich bereits Familienangehörige der antragstellenden Person rechtmäßig in Deutschland befinden, kann Deutschland dennoch zuständig sein.

Diese Verfahrensgarantie sei durch die Bundespolizei im Fall der drei Somalier:innen verletzt worden, entschied das Gericht. Die drei hätten ein Asylgesuch geäußert, deshalb hätte ihnen der Grenzübertritt erlaubt und das Dublin-Verfahren in Deutschland durchgeführt werden müssen.

VG zur Notlage: Gefahr nicht hinreichend dargelegt 

Das von der Bundesregierung angeführte umstrittene Argument, § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG erlaube die Zurückweisung von Asylsuchenden, die über sichere EU-Staaten eingereist sind, ließ das VG nicht gelten. Ob die Vorschrift tatsächlich auf EU-Staaten anwendbar ist, ließ die Kammer dabei offen. Jedenfalls werde nationales Recht aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts durch die Regeln der Dublin-III-Verordnung verdrängt, heißt es in den Entscheidungsgründen, die LTO vorliegen.

Die 6. Kammer des VG ging auch auf die von der Bundesregierung eher hilfsweise vorgebrachte sogenannte Notlage ein. Dieses Argument spielt auf die Ausnahmeregelung des Art. 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) an. Der erlaubt die Abweichung von EU-Sekundärrecht – also Richtlinien und Verordnungen wie Dublin III –, wenn dies der "Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" dient.

Auf diese Regelung im EU-Primärrecht könne sich die Bundesrepublik jedoch nicht berufen, so das VG. Schon die Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere sicherheit habe die Bundespolizei nicht hinreichend dargelegt. Die Behörde hatte Zahlen vorgelegt, wonach in Deutschland EU-weit überproportional viele, nämlich 25 Prozent, der Asylanträge gestellt werden und dass dieser Wert die Anzahl der Eurodac-Treffer um ein Vielfaches überschreite. Eurodac ist das zentrale europäische Fingerabdruck-Erkennungssystem, das im Rahmen des Dublin-Systems dazu dient, Erstanträge auf Asyl zu erkennen und Mehrfachanträge zu verhindern.

Russlands hybride Kriegsführung keine "Notlage"

"Es bleibt offen, was aus diesen Zahlen genau für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik folgt", bewertete die Kammer diesen Sachvortrag nicht abschließend. Allerdings stellten die Richter:innen klar: "Soweit die Antragsgegnerin damit eine Vernachlässigung der bestehenden Pflichten seitens der anderen Mitgliedstaaten belegen will, führt dies allein nicht zu einer Rechtfertigungsmöglichkeit aus Art. 72 AEUV." Es sei "weder vorgetragen noch sonst ersichtlich", dass eine Situation bestehe, "die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre und auf Grund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre".

Darüber hinaus gingen die Richter:innen noch auf das Argument ein, dass Russland und Belarus im Rahmen ihrer hybriden Kriegsführung Massenmigration nach Europa fördern. Dabei ließen sie nicht gelten, dass die EU-Kommission den Mitgliedstaaten in einer Mitteilung von Ende 2024 rät, sich im Fall massenhafter Migrationsströme auf Bestimmungen zum Schutz der nationalen Sicherheit zu berufen. Denn die Mitteilung beziehe sich vorrangig auf die EU-Außengrenzen. Außerdem sei die Kommission "nicht dafür zuständig, den Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV die Erlaubnis zur Suspendierung des Sekundärrechts zu erteilen".

Schließlich äußerte das VG Zweifel daran, dass die Berufung auf Art. 72 AEUV an der Grenze zu einem EU-Nachbarn zulässig sei, ohne zuvor versucht zu haben, "mit den EU-Organen und den betroffenen Nachbarstaaten ernsthaft nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen". Hierzu verpflichte der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 des EU-Vertrags.

Anspruch auf Dublin-Verfahren aber nicht auf Einreise

Mit den unanfechtbaren Beschlüssen entsprach das Gericht weitgehend den Ansinnen der Antragsteller, die Durchführung eines Dublin-Verfahrens durch das BAMF zu erzwingen. Auch wenn es sich nur um Eilentscheidungen handelt, äußerte sich das Gericht deutlich zur zentralen Grundfrage: Die Zurückweisungen an der Grenze und ihre Rückführung nach Polen werden "sich in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen", heißt es in den Entscheidungsgründen.

Zum anderen entsprach das Gericht dem Begehren von ProAsyl, die Unionsrechtwidrigkeit der Zurückweisungen von Asylsuchenden grundsätzlich festzustellen. Zwar hat die 6. Kammer formal nur über drei Einzelfälle entschieden. Jedoch dürften die Ausführungen zur Begründung allgemeingültig sein: Die Zurückweisung von Personen, die an der Grenze ein Asylgesuch äußern, verletzt die Garantie, dass in diesem Staat (wenigstens) ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden muss.

Was den genauen Ort dieses Verfahrens angeht, wies das VG Berlin die Anträge der drei Somalier:innen aber teilweise zurück. Die Bundesrepublik wird im Wege der einstweiligen Anordnung nur verpflichtet, die Antragsteller "in den Zuständigkeitsbereich" der Bundespolizei zu lassen, um das Dublin-Verfahren einzuleiten. Den weitergehenden Anordnungsantrag, die drei Personen nach Deutschland einreisen zu lassen, lehnt das Gericht ab. Ein Anspruch darauf bestehe nicht. Denn nach der Dublin-Verordnung sei es möglich, das Dublin-Verfahren an der Grenze oder im grenznahen Bereich durchzuführen, ohne dass damit zwangsläufig eine Einreisegestattung verbunden sein müsse.

GdP sieht sich bestätigt

Angesichts der Gerichtsentscheidungen fordern die Grünen Dobrindt auf, gegen die Zurückweisung Asylsuchender auf deutschem Gebiet "unverzüglich seine Anordnung zurückzuziehen". Das sei "eine harte Niederlage für die Bundesregierung und sollte eine Mahnung sein, sich künftig an Recht und Gesetz zu halten und die eigenen Kompetenzen nicht wissentlich für populistische Zwecke zu überschreiten", sagte die Parlamentsgeschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, der Rheinischen Post. Bundeskanzler Friedrich Merz und Dobrindt "wollten mit dem Kopf durch die Wand und sind damit krachend gescheitert".

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht sich in ihrer Skepsis bestätigt. "Wir haben von Anfang an gesagt, dass die jetzt eingeführte Verfahrensweise, Zurückweisung von Asyl- und Schutzersuchenden, juristisch stark umstritten ist", sagte der Vorsitzende des GdP-Bereichs Bundespolizei, Andreas Roßkopf, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

 

Erstmals hat ein Gericht die Zurückweisung von Asylbewerbern an den Grenzen für rechtswidrig erklärt. Innenminister Dobrindt spricht von einem Einzelfallbeschluss – und will an der umstrittenen Praxis festhalten. Von der Opposition kommt Kritik.

Die Bundesregierung hat mit ihrer neuen Migrationspolitik einen Rückschlag erlitten. Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte am Montag die Zurückweisung von Asylbewerbern auf deutschem Gebiet für rechtswidrig. Sie dürften nicht ohne Prüfung des Asylantrags abgewiesen werden, entschied das Gericht in einem Eilverfahren im Fall von drei Somaliern.

Innenminister Alexander Dobrindt erklärte jedoch am Abend, Asylbewerber sollten auch künftig von der Bundespolizei an den Grenzen abgewiesen werden. Die Eil-Entscheidung des Verwaltungsgerichts gegen die Praxis sei ein "Einzelfallbeschluss", sagte der CSU-Politiker in Berlin. Zudem wolle man eine Entscheidung im Hauptverfahren. "Wir halten im Übrigen an den Zurückweisungen fest."

Das Gericht habe ausführlichere Begründungen für die Zurückweisungen verlangt. Diese werde man liefern. Dobrindt verwies zudem darauf, dass die drei betroffenen Somalier dreimal während verschiedener Tage versucht hätten, die Grenze zu überschreiten. Erst beim dritten Versuch hätten sie sich auf das Asylrecht berufen.

Gericht hält Asyl-Zurückweisungen für rechtswidrig

Die Berliner Eil-Entscheidung gilt nur für die drei Somalier, zwei Männer und eine Frau, die sich gegen ihre Zurückweisung ohne Dublin-Verfahren wehrten. Das Gericht machte aber deutlich, dass es die Zurückweisungen bei Grenzkontrollen in solchen Fällen allgemein für rechtswidrig hält.

Da die drei Menschen ihren Wunsch nach Asyl ausgesprochen hätten, müsse ihnen der Grenzübertritt erlaubt werden - allerdings nicht unbedingt ohne Einschränkungen, hieß es. Das Dublin-Verfahren könne an der Grenze oder im grenznahen Bereich stattfinden. In einem solchen Verfahren prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, welcher Staat zuständig für das Asylverfahren ist. Meist ist es das europäische Land, in das die Betroffenen als Erstes reisten.

Das Vorgehen der Bundesregierung war seit Ankündigung der verschärften Kontrollen rechtlich umstritten. Dobrindt zufolge ist es nicht auf lange Dauer angelegt. Von den Zurückweisungen sind zudem besonders verletzliche Gruppen wie Kinder und Schwangere ausgenommen.

SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler sagte, man werde mit Minister Dobrindt sprechen, wie die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages umgesetzt werden könnten. "Die Erlasslage des Ministeriums und die Verfügungen des Präsidenten der Bundespolizei müssen zweifelsfrei mit Europarecht, deutschem Recht und unserem Anspruch, Schutzsuchenden zu helfen, vereinbar sein", erklärte er.

Grüne: Merz und Dobrindt wollten "mit dem Kopf durch die Wand"

Im Koalitionsvertrag heißt es, dass Zurückweisungen auch von Asylbewerbern "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" vorgenommen würden. Was dies genau heißt, wurde jedoch nicht definiert. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, nannte das Urteil eine erwartete Niederlage für Kanzler Friedrich Merz (CDU) und Innenminister Dobrindt: "Merz und Dobrindt wollten mit dem Kopf durch die Wand und sind damit krachend gescheitert", sagte sie der "Rheinischen Post".

Der Vorsitzende des Bereichs Bundespolizei bei der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Andreas Roßkopf, sagte der "Funke Mediengruppe": "Wir haben von Anfang an gesagt, dass die jetzt eingeführte Verfahrensweise, Zurückweisung von Asyl- und Schutzersuchenden, juristisch stark umstritten ist." Man sei nur den Anweisungen des Innenministers gefolgt. "Wichtig ist uns nur, dass keinerlei Konsequenzen und rechtliche Schritte an unseren Kolleginnen und Kollegen hängen bleiben."

Die Geflüchtetenorganisation Pro Asyl forderte nach dem Urteil "ein sofortiges Ende rechtswidriger Zurückweisungen an den deutschen Grenzen". Dobrindt habe "mit seinem nationalen Alleingang genug Leid für Schutzsuchende verursacht und außenpolitischen Schaden angerichtet", betonte Pro-Asyl-Geschäftsführer Karl Kopp.