21.11.2025 Das Aufbrechen der Tür zum Schlafzimmer eines Schutzsuchenden in einer Sammelunterkunft ist verfassungswidrig, wenn sie nicht richterlich als Durchsuchung angeordnet war. Dies gilt auch bei der beabsichtigten Festnahme für eine Abschiebung.
"Das BVerfG mache deutlich, dass Geflüchtete "keine Grundrechtsträger zweiter Klasse" seien. "Bei einschneidenden Eingriffen muss es einen hohen Grundrechtsschutz geben. Auch für die politische Diskussion rund um die Verschärfung der Abschiebepraxis ist die Entscheidung ein wichtiges Signal." RA Matthias Lehnert (beck-aktuell)
Sarah Lincoln, Rechtsanwältin bei der NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) , betont, dass das BVerfG der aktuellen Abschiebepraxis der Polizei eine klare Absage erteilt habe. "Abschiebungen sind kein Freibrief und Schlafzimmer von Geflüchteten keine rechtsfreie Zone, sondern als einziger und elementarer Rückzugsraum grundrechtlich besonders geschützt. Wenn die Polizei hier eindringen will, braucht sie einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Was selbstverständlich sein müsste, hat Karlsruhe heute klargestellt", so die Juristin. (beck-aktuell)
- n-tv 20.11.2025 Verfassungsbeschwerde mit Erfolg Flüchtlingsunterkunft darf nicht ohne Beschluss durchsucht werden
Um Menschen abzuschieben, darf die Polizei nicht ohne richterlichen Beschluss in Geflüchtetenunterkünfte eindringen. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Beschwerde eingelegt hatte ein Asylbewerber aus Westafrika.
Ein Mann aus dem westafrikanischen Guinea ist vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen die Durchsuchung seines Zimmers in einer Gemeinschaftsunterkunft vorgegangen. Der Mann sollte abgeschoben werden - die Polizisten wussten aber nicht, ob er in dem Zimmer war, wie das Gericht in Karlsruhe ausführte. Darum hätten sie eine richterliche Durchsuchungsanordnung gebraucht.
Da es eine solche nicht gab, wurde der Mann in seinem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung verletzt...
- Pressemitteilung von Pro Asyl: Karlsruhe stoppt verfassungswidrige Praxis: Polizei braucht Durchsuchungsbeschluss für Abschiebung aus dem Schlafzimmer
20.11.2025 Der Schutz der Wohnung gilt auch in Unterkünften für Geflüchtete. Wenn die Polizei für eine Abschiebung ohne Durchsuchungsbeschluss in die Wohnung eines Geflüchteten eindringt, ist das verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einem heute bekannt gegebenen Beschluss zur Verfassungsbeschwerde von PRO ASYL und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) klargestellt.
2019 drangen Polizeibeamt*innen mit einem Rammbock in das Zimmer des guineischen Beschwerdeführers in einem Berliner Übergangswohnheim ein, um ihn abzuschieben. Eine richterliche Anordnung hatten die Beamt*innen nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden, dass grundsätzlich eine Durchsuchung vorliegt, wenn eine Person zum Zwecke der Abschiebung in ihrem Zimmer in einer Unterkunft aufgesucht wird.
„Abschiebungen sind kein Freibrief und Schlafzimmer von Geflüchteten keine rechtsfreie Zone, sondern als einziger und elementarer Rückzugsraum grundrechtlich besonders geschützt. Wenn die Polizei hier eindringen will, braucht sie einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Was selbstverständlich sein müsste, hat Karlsruhe heute klargestellt und damit der aktuellen Abschiebepraxis der Polizei eine klare Absage erteilt“, sagt Sarah Lincoln, Rechtsanwältin und Juristin bei der GFF.
Bundesverfassungsgericht: Richtervorbehalt darf nicht unterlaufen werden
Das Bundesverfassungsgericht korrigiert mit diesem Beschluss die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und stellt klar: Um ein Betreten als Durchsuchung zu qualifizieren, muss sich die gesuchte Person nicht innerhalb der Wohnung verstecken. Das würde zu zufälligen Ergebnissen führen und den präventiven Zweck des Richtervorbehalts unterlaufen.
„Geflüchtete Menschen haben Grundrechte, die nicht einfach ignoriert werden können, nur weil es um eine Abschiebung geht. Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in Zeiten, in denen die Rechte geflüchteter Menschen immer weiter in Frage gestellt werden, ein wichtiger Denkzettel für die Regierung, in ihrer Migrationspolitik Grund- und Menschenrechte zu achten“, betont Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Durchsuchungsbeschluss für Abschiebung aus Zimmer in Geflüchtetenunterkunft erforderlich
Mit der 2019 eingeführten Regelung in Paragraf 58 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz hatte die damalige Bundesregierung versucht, die grundrechtlichen Anforderungen an den Schutz der Wohnung zu unterlaufen: Die Regelung sah vor, dass die Polizei die Zimmer betreten darf, um eine Person abzuschieben, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass sich die Person aktuell in der Wohnung aufhält. Ein Durchsuchungsbeschluss war danach nicht notwendig.
„Karlsruhe stellt nun klar, dass ein Durchsuchungsbeschluss erforderlich ist, solange die Polizei vor Beginn der Maßnahme keine sichere Kenntnis darüber hat, dass und wo sich die Person konkret im Raum befindet. Für die 2019 eingeführte Regelung in § 58 Abs. 5 AufenthG bleibt damit nahezu kein Anwendungsbereich mehr”, so Christoph Tometten, Rechtsanwalt des Beschwerdeführers.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. Februar 2024 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückverwiesen.
- beck-aktuell Heute im Recht: Abschiebung aus dem Gemeinschafts-Schlafzimmer: Nicht ohne Durchsuchungsbefehl
Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt auch in Gemeinschaftsunterkünften. Wenn die Polizei für eine Abschiebung ohne Durchsuchungsbeschluss in das Zimmer eines Geflüchteten eindringt, ist das verfassungswidrig, so das BVerfG.
Das BVerfG stuft die Ergreifung des Ausländers im Zimmer einer Geflüchtetenunterkunft als Durchsuchung ein. Daher habe es einer richterlichen Durchsuchungsanordnung bedurft. Da eine solche fehlte, sei der Mann in seinem Grundrecht aus Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) verletzt.
Der Mann, dessen Abschiebung die Behörden angeordnet hatten, bewohnte in der Gemeinschaftsunterkunft zusammen mit einer weiteren Person einen Raum. Nachdem er trotz mehrfachen Klopfens die verschlossene Tür seines Zimmers nicht geöffnet hatte, brach die Polizei sie auf und betrat das Zimmer, um den Mann zu ergreifen. Ob dieser sich verborgen hielt oder ob die Beamtinnen und Beamten ihn unmittelbar identifizieren konnten, ist unklar.
Jedenfalls klagte er vor den Verwaltungsgerichten. Er wollte feststellen lassen, dass sein Zimmer ohne richterliche Anordnung nicht hätte betreten und durchsucht werden dürfen. Seine Klage wurde vom OVG in vollem Umfang abgewiesen. Auch vor dem BVerwG, das die Revision zuließ, hatte er keinen Erfolg. Das BVerfG gab dem Mann jetzt jedoch Recht.
Wann liegt eine Durchsuchung vor?
In dem Verfahren ging es maßgeblich um die Frage, was unter dem Begriff der Durchsuchung zu verstehen ist. Das BVerwG definierte die Durchsuchung als "die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung". Kennzeichnend sei die Absicht, etwas verborgenes aufzudecken, mithin die Wohnung als einen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereich auszuforschen.
"Dass es sich bei einer Geflüchtetenunterkunft um eine Wohnung handelt, wurde gar nicht mehr in Zweifel gestellt", betont der auf Asylrecht spezialisierte Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert. "Das BVerfG hat vielmehr klargestellt, was eine Durchsuchung ist und dass der Richtervorbehalt auch bei Abschiebungen gilt."
Der Betroffene hatte argumentiert, für eine Durchsuchung komme es auf den Zweck des Auffindens an, und zwar aus einer ex-ante-Perspektive und unabhängig von den konkret durchgeführten Suchhandlungen. Für das BVerwG unterläuft diese Sichtweise indes die Unterscheidung zwischen einem Betreten und einem Durchsuchen.
BVerfG: Kenntnis vom Aufenthaltsort entscheidend
Das BVerfG widersprach dem BVerwG und geht davon aus, dass eine Durchsuchung stattgefunden hat und diese – mangels richterlicher Anordnung – verfassungswidrig war. Eine andere Interpretation sei nicht mit Art. 13 GG vereinbar (Beschluss vom 19.09.2025 - 2 BvR 460/25).
Wenn die Beamtinnen und Beamten den Betroffenen zum Zweck der Abschiebung im Zimmer einer Gemeinschaftsunterkunft aufsuchen, sei das eine Durchsuchung, solange vor Beginn der Maßnahme keine sichere Kenntnis über den konkreten Aufenthaltsort der zu ergreifenden Person besteht. Die Ausländerbehörde und ebenso die Polizei vor Ort befänden sich bei der Planung einer Abschiebung regelmäßig im Unklaren darüber, ob eine Suchhandlung nötig sein wird; zumindest könne das zumeist nicht mit der erforderlichen Sicherheit prognostiziert werden.
Art. 13 GG zielt auf präventiven Schutz
Die Karlsruher Richter und Richterinnen bejahten die Notwendigkeit einer vorherigen richterlichen Anordnung deswegen auch bei einer Ergreifung im Zimmer einer Gemeinschaftsunterkunft zum Zwecke der Abschiebung. Der Richtervorbehalt diene nicht der Reaktion auf eine bereits eingetretene Grundrechtsbeeinträchtigung, sondern begegne präventiv einem Gefährdungspotenzial. Der Richtervorbehalt könne seine verfassungsrechtlich verbürgte kompensatorische Rechtsschutzfunktion nur erfüllen, wenn die Behörden bereits vor dem Beginn der Maßnahme und nicht erst während deren Durchführung prüfen müssen, ob mit einer Durchsuchung zu rechnen ist. Der präventive Grundrechtsschutz, den Art. 13 Abs. 2 GG gewährleiste, würde andernfalls bei Abschiebungen nahezu leerlaufen.
Die Auslegung des Durchsuchungsbegriffs durch das BVerwG, die ex post auf das äußere Erscheinungsbild der Maßnahme abstellt, hält das BVerfG nicht für tragfähig. Eine tatsächlich vorgenommene und nach außen als solche erkennbare physische - also qualifizierte - Suchhandlung zu fordern, führe zu zufälligen Ergebnissen. Das wiederum sei mit dem Schutzzweck des Richtervorbehalts unvereinbar.
Darauf abzustellen, welche privaten Umstände staatliche Stellen in einer Wohnung in welchem Maße zur Kenntnis nehmen, hält das BVerfG als Abgrenzungskriterium ebenfalls für untauglich. Ein solches Verständnis führe zu einer Abgrenzung anhand des Grades der Kenntnisnahme im Laufe der Maßnahme und nicht – wie geboten – zu einer Abgrenzung vor deren Beginn. Dies widerspreche dem stufenlosen Schutz der räumlichen Sphäre aus Art. 13 Abs. 1 GG. Dieser greife nicht erst, wenn die Kenntnisnahme ein bestimmtes Niveau erreicht oder besonders persönlichkeitsrelevante Sachverhalte betrifft.
Verborgenhalten nicht von Bedeutung
Auch im konkreten Fall geht das BVerfG von einer Durchsuchung aus. Insbesondere fehle es nicht am Element des Suchens nach etwas Verborgenem. Den Polizeibeamten sei bis zum Aufbrechen der Zimmertür nicht bekannt gewesen, ob sich der Abzuschiebende überhaupt im Zimmer der Gemeinschaftsunterkunft aufhielt. Schon gar nicht hätten sie gewusst, wo genau in diesem Zimmer er sich gegebenenfalls befand. Der konkrete Aufenthaltsort sei also vorab nicht bekannt gewesen. Daher hielt es das BVerfG für unerheblich, dass nach den tatsächlichen Feststellungen unklar blieb, ob sich der Betroffene verborgen hielt oder ob er unmittelbar identifiziert werden konnte.
Zu erkunden, ob und gegebenenfalls wo konkret sich jemand befindet, sei "nicht nur eine bei Gelegenheit wahrgenommene Information", so die Richterinnen und Richter weiter. Vielmehr greife die Polizei derart auf die Wohnung zu, dass die Sphäre der freien Persönlichkeitsentfaltung erheblich beeinträchtigt sein könne.
Nach alledem hat das BVerfG das Urteil des OVG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Das Urteil verfehle die Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 GG, indem es das Verhalten der Polizeibeamten nicht als Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG einstuft. Soweit der Betroffene auch die Nichtzulassung der Revision durch das BVerwG angegriffen hat, hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Denn der BVerwG-Beschluss sei mit der Aufhebung des OVG-Urteils sowieso gegenstandslos geworden.
Wichtiges politisches Signal
Lehnert begrüßt die Entscheidung des BVerfG: "Es gibt kaum einen intensiveren Eingriff in die Privatsphäre, sodass die Schutzfunktion des Art. 13 GG und die Annahme des Richtervorbehalts für die Durchsuchung hier ganz besonders wichtig ist." Darüber hinaus betont er die Wichtigkeit der Entscheidung auch als politisches Signal. Das BVerfG mache deutlich, dass Geflüchtete "keine Grundrechtsträger zweiter Klasse" seien. "Bei einschneidenden Eingriffen muss es einen hohen Grundrechtsschutz geben. Auch für die politische Diskussion rund um die Verschärfung der Abschiebepraxis ist die Entscheidung ein wichtiges Signal."
Ob der Beschluss des BVerfG in der Praxis eventuell durch andere Maßnahmen – beispielsweise durch die exzessive Annahme von Gefahr im Verzug – umgangen wird, werde sich erst noch zeigen. "Das muss dann erneut gerichtlich geprüft werden", so Lehnert.
Sarah Lincoln, Rechtsanwältin bei der NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) , betont, dass das BVerfG der aktuellen Abschiebepraxis der Polizei eine klare Absage erteilt habe. "Abschiebungen sind kein Freibrief und Schlafzimmer von Geflüchteten keine rechtsfreie Zone, sondern als einziger und elementarer Rückzugsraum grundrechtlich besonders geschützt. Wenn die Polizei hier eindringen will, braucht sie einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Was selbstverständlich sein müsste, hat Karlsruhe heute klargestellt", so die Juristin.
Dieser Einordnung schließt sich auch Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL, an: "Geflüchtete Menschen haben Grundrechte, die nicht einfach ignoriert werden können, nur weil es um eine Abschiebung geht. Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in Zeiten, in denen die Rechte geflüchteter Menschen immer weiter in Frage gestellt werden, ein wichtiger Denkzettel für die Regierung, in ihrer Migrationspolitik Grund- und Menschenrechte zu achten."